Mit dem Sozialismus vor dem Abgrund – jetzt einen Schritt weiter Teil 1

 

Der Text »Mit dem Sozialismus vor dem Abgrund - Jetzt einen Schritt weiter« erschien in einmaliger Auflage 2005 bei der »brevis musikoffizin«.
Er wurde nach dem Manuskript von Hermann Keller von Steffen Schellhase gesetzt und grafisch gestaltet und ist auf Anfrage als gedrucktes Exemplar lieferbar. Bei Interesse wenden Sie sich bitte an: scriptorium@brevis-musikoffizin.de 

 

 

Mit dem Sozialismus vor dem Abgrund – Jetzt einen Schritt weiter

Hermann Keller   1997

 

Teil 1                     

 


Inhalt

Angelus Novus

Paul Klee, 1920
Aquarellierte Zeichnung, 31,8 cm × 24,2 cm
Israel-Museum, Jerusalem
Beobachtung 1   
Beobachtung 2   
Beobachtung 3
Beobachtung 4   
Zeitproblem 1   
Zeitproblem 2
Beobachtung 5   
Beobachtung 6   
Zeitproblem 3
Das eigentliche Zeitproblem: der Fortschritt (1)   
Beobachtung 7   
Das eigentliche Zeitproblem: der Fortschritt (2)   
Beobachtung 8   
Das eigentliche Zeitproblem: der Fortschritt (3)   
Beobachtung 9 
Beobachtung 10   
Sozialismus und Fortschritt   
Eigentum und Fortschritt   
Demokratie und Fortschritt (1)
Beobachtung 11   
Demokratie und Fortschritt (2)   
Beobachtung 12   
Ein weiteres Zeitproblem: der Konjunktiv   
Das eigentliche Zeitproblem: der Fortschritt (4)   
Sparen und Fortschritt (1)
Beobachtung 13   
Musik und Fortschritt   
Sparen und Fortschritt (2)   
Das antiökonomische Manifest   




Herbst 1989. Die Staaten, die sich sozialistisch nannten, brachen zusammen. Viele Leute sagten zu dieser Zeit Dinge, die sie später nicht wahrhaben wollten. Einer, der von einmal gewonnenen Erkenntnissen nicht abrückte, war interessanterweise derjenige, der die Bundesrepublik als erster in der DDR offiziell vertreten hatte, Günter Gaus. Ihm war es auch vorbehalten, ein Bild von der Zukunft zu sehen, das sich ihm aufdrängte, obwohl es keinesfalls sein Wunschbild war. Er sprach damals von der Gefahr, daß die Völker der "2. Welt" (der ehemals sozialistischen) an den Tisch der "1. Welt" drängen, um gemeinsam das zu verprassen, was den Völkern der "3. Welt" zusteht. Sieht man davon ab, daß schon diese Numerierung fragwürdig ist (denn die "3. Welt" war die erste in der Menschheitsentwicklung), könnte kaum besser beschrieben werden, was damals solchen Warnungen zum Trotz in Gang gesetzt wurde. Jetzt, 7 Jahre später, ist längst klar, daß besagter Tisch keineswegs beliebig gedeckt werden kann; aber die Zeit hat ausgereicht, um die Weichen so zu stellen, daß fast niemand gegen die grundsätzlich westliche Fahrtrichtung aufzutreten wagt, so kontrovers die Diskussionen im einzelnen auch sein mögen.

Klärende Gespräche werden dadurch erschwert, daß die Vorurteile der Gegenwart oft schon die der realsozialistischen Vergangenheit waren; denn es ist viel mehr Kontinuität dort, wo anfangs nur Brüche oder gar Revolutionen gesehen wurden. Konter-Evolution nenne ich die Entwicklung, welche spätestens zu Beginn der 80er Jahre, wahrscheinlich aber schon viel früher aus den antikapitalistischen eine neue Art von vorkapitalistischen Gesellschaften machte. Es gab Oppositionelle, die eine solche Entwicklung aufhalten wollten, und andere Oppositionelle, denen sie nicht schnell genug gehen konnte. Die Regimegegner selbst gehörten also Strömungen an, wie sie gegensätzlicher gar nicht sein konnten.

Das fiel wenig auf, solange alle durch die eine - außerhalb jeder Diskussion stehende - Notwendigkeit, die Herrschaft der SED und der Stasi zu beenden, zusammengeführt wurden. Seitdem aber sind nicht nur Illusionen über den Sozialismus zerstört worden, sondern auch solche über die Unabhängigkeit des Widerstands. Der theatralische Übertritt einiger "Revolutionäre" zur CDU ist nur ein Höhepunkt bei der Selbstentlarvung von Leuten, die ursprünglich beteuert hatten, eine Gesellschaft nach westlichem Muster ganz bestimmt nicht zu wollen. Die anderen Oppositionellen von damals, die ihre Unabhängigkeit bis heute bewahrt haben, tragen schwer an einem Geburtsfehler des Antikapitalismus. Damit meine ich allerdings so ziemlich das Gegenteil von dem, was sonst - in unklarer Wortbedeutung - darunter verstanden wird. Wie jeder Geburtsfehler ist er nämlich etwas, wofür man zunächst nichts kann, etwas Ererbtes, und das Erbgut stammt von dem am stärksten Bekämpften, vom Kapitalismus selbst. Es gelang den als Gegenentwurf geplanten Gesellschaften nicht, sich selbst am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, weil die Ähnlichkeit mit dem vorangegangenen (und weiterbestehenden) System viel zu groß war, ungewollt und später auch gewollt. Wenn sich nun beispielsweise Wirtschaftsfunktionäre aus der DDR im Kapitalismus ebensogut aufgehoben fühlen wie manche Ex-Widerständler, dann ist das nur folgerichtig. Und es ist selbst für Leute, die weiterhin ernst nehmen wollen, was sie einmal gedacht und angestrebt haben, sehr schwer, dem Sog westlicher Lebensweise in ganzer Breite zu entgehen. Damit dies gelingen kann, muß erst einmal deutlich werden, wie weit der sogenannte Sozialismus tatsächlich antikapitalistisch und wie weit er nur eine schlechte Kopie des Kapitalismus war.



Beobachtung 1

Die unzähligen persönlichen Stellungnahmen zur DDR-Vergangenheit, die ich in den letzten Jahren hörte und las, waren immer wieder geprägt durch ein merkwürdiges Nebeneinander-Stehen der Einschätzungen: "Dies, dies und dies war schlecht, unerträglich, nicht mehr hinnehmbar. Jenes war aber auch gut, vielleicht sogar vorbildlich, freilich um den Preis dessen, was dann wieder schlecht, unerträglich usw...." "Nachdem man allerdings die westliche Gesellschaft erlebt hat, wünscht man sich doch, es wäre einiges von dem zu retten gewesen, was im Osten gut, vorbildlich war. Aber das wäre ja nur möglich gewesen um den Preis des nicht Hinnehmbaren, das uns aber wiederum solidarisch zusammenstehen ließ..."
So dreht sich alles im Kreise; die Frage ist nur, an welcher Stelle das Rad zum Stillstand kommt. Die Macht, hier zu drehen oder anzuhalten, hat - in der Öffentlichkeit - fast immer ein westlicher Gesprächsleiter, und jemand, der sich zu lange bei Erinnerungen an Gutes aufhält, wird sehr schnell gedrängt, das Rad ein Stück weiterzudrehen, wo man ihn über Unerträgliches ausführlich reden läßt.

Aber auch ohne solchen Eingriff tut man sich schwer als Ostler, unter anderem deshalb, weil es kaum jemals gelingt, das Rad in die andere Richtung zu drehen, will sagen: Kaum jemals gelingt es, einen westlichen Gesprächspartner zu einer ähnlich offenen (meinetwegen auch einer ähnlich hilflosen) Auseinandersetzung mit seinem System und seiner Vergangenheit zu bewegen. Dabei hat es genügend Leute gegeben, die zunächst 1945, dann spätestens 1968 und dann wieder 1989/90 etwas sehr anderes angestrebt haben als die jetzige bundesdeutsche Realität. Geht es jedoch um eine mehr oder weniger nackte Offenbarung persönlicher Motive und Handlungen, wie man sie von den Bürgern der ehemaligen sogenannten DDR verlangt, dann wird im Westen "gemauert", von vielen wird sogar an einem antisozialistischen Schutzwall gebastelt, der erfolgversprechender ist als die brutale und plumpe Mauer, denn ein geistiges Schutzsystem ist weniger offensichtlich und steht im Bunde mit viel tiefer wirkenden Kräften und dazu gehörenden Vorurteilen, die als solche nicht mehr auffallen, weil sie schon durch viele Generationen mitgeschleppt werden. Die gegenwärtige Bewußtseinslage läßt oftmals richtige Maßnahmen mit falschen Begründungen zu, oder es werden falsche Maßnahmen mit halben Wahrheiten verteidigt, oder erfolgreiches Handeln geschieht in Unkenntnis der Zusammenhänge, so daß insgesamt eine Verwirrung herrscht, wie sie der folgende jüdische Witz zum Ausdruck bringt:
Die Juden werden vom katholischen Priester zum Rededuell gefordert. Wer auf eine Frage antworten muß, daß er es nicht weiß, den soll es den Kopf kosten. Die gebildeten Juden zögern; da meldet sich überraschend der jüdische Kutscher. Er macht zur Bedingung, daß er die erste Frage stellen darf. Nachdem der Priester dies akzeptiert, fragt er: "Was heißt 'eineni jodea'?" Der Priester liefert die korrekte Übersetzung; "Ich weiß nicht", und es kostet ihn den Kopf. Später fragt man den Kutscher: "Wie bist du denn auf diese kluge Idee gekommen?" Der antwortet: "Ich habe mal gehört, wie der Rabbiner gefragt wurde, was 'eineni jodea' heißt. Er sagte: 'Ich weiß nicht' Da habe ich mir jetzt gedacht: Das ist ja hebräisch, und wenn der Rabbiner es schon nicht weiß, dann wird der Priester es erst recht nicht wissen."



Beobachtung 2

Gelegentlich wird der Vorschlag gemacht, die Deutschen sollten sich gegenseitig ihre Biographien erzählen. Wenn die Entfremdung und Verwirrung tatsächlich so groß ist - was ich im einzelnen noch zu zeigen habe -, dann ist wohl einfaches Berichten und Zuhören der beste Weg zur Annäherung. Versucht aber jemand aus dem Osten eine solche Erzählung, wird seine subjektive Sicht sofort gekontert durch objektive Erwägungen. Sage ich beispielsweise, daß ich als freiberuflicher Komponist in der DDR bescheiden, aber auskömmlich leben konnte (eine Tatsache, nicht mehr und nicht weniger), dann werden blitzschnell politische und ökonomische Argumente entgegengehalten, die beweisen sollen - ja was? Daß die DDR zusammengebrochen ist, daß ihr System so nicht bestehenbleiben konnte, daß jetzt die Arbeit für "klassische" Musiker schwerer wird, daß "ein anderer Wind weht", weiß ich doch alles selbst. Aber muß ich nicht die Möglichkeit haben, mein Bild von meiner Situation zu zeichnen, wenn letztlich aus vielen solcher Berichte ein Gesamtbild entstehen soll? Ein Westdeutscher findet es normal, die Vorteile hervorzuheben, die ihm seine Gesellschaft bietet. Viele finden es normal, sie auch dann zu nutzen, wenn das auf Kosten anderer geht, sogar wenn nachweislich vielen Menschen Schaden zugefügt wird. Darf ich da nicht wenigstens über meine Vergangenheit berichten, ohne die Erinnerungen schon im Moment des Heraufkommens zurückzunehmen und umzuarbeiten (Zensur und Selbstzensur, wie man sie der DDR mit Recht verübelt)? Wenn ich sage, daß ich die bescheidene, aber auskömmliche Existenz als Komponist am allerwenigsten zu meiner Bequemlichkeit geführt habe, sondern auf andere Menschen wirken und damit auch die DDR-Wirklichkeit verändern wollte (wer rein kommerzielle Interessen verfolgt, muß so etwas gar nicht erklären) , dann höre ich sogleich: "Aber du hättest doch wissen müssen, daß diese Gesellschaft nicht zu reformieren war!" Einmal ganz davon abgesehen, daß wir durch westliche Medien beständig zu diesem Reformwerk ermuntert wurden ("Sozialismus mit menschlichem Antlitz" wäre sicherlich das Wort des Jahres 1968 gewesen), hätte man wirklich damals schon wissen sollen, was man heute weiß? Um ein Paradoxon zu wagen: Hätten viele das früher "gewußt", hätten also früher aufgehört, um Reformen zu kämpfen, dann wäre das Politbüro vielleicht noch heute an der Macht; erst recht,hätten sie voraussehen können, welche Probleme die neuen Verhältnisse mit sich bringen. Es ist ein Widerspruch in sich, daß man mit dem heutigen Wissen vorgestern handeln soll. In der Umkehrung könnte das nur heißen, daß sich jedes Handeln nach dem vermuteten Trend von übermorgen richtet und damit kein Widerstand geleistet wird (was für die Gegenwart auch so gewünscht ist!) Außerdem kann ein Urteil nur derjenige wagen, der mehr Einsichten hat als der zu Beurteilende. Das würde hier voraussetzen, daß im Wissen der Gegenwart das Wissen der Vergangenheit vollständig aufbewahrt ist. In welchem Ausmaß genau dies nicht der Fall ist, in welchem Ausmaß Erinnerungen verlorengegangen sind, will ich unter verschiedenen Gesichtspunkten noch zeigen. Einer davon ist, daß viele Erfahrungen bereits durch den Tod ihrer Träger ausgelöscht sind. Es ist zum Beispiel ein schrecklicher "Vorteil" für das Gewissen der jeweils Überlebenden, daß die Toten der Kriege nicht mehr reden können. Schon diese massenhafte Vernichtung von Bewußtsein läßt Zweifel aufkommen, ob die Gegenwart klüger sein kann als die Vergangenheit. Vor diesem Hintergrund sollte mansich auch der Überlebenden von Krieg und KZ erinnern. Fast jeder in der DDR ist auch von Menschen beeinflußt worden, die damals glaubwürdig erschienen, obwohl oder weil sie für sozialistische Ideen einstanden. Die meisten von ihnen hatten trotzdem oder gerade deshalb selbst Schwierigkeiten mit den Herrschenden. Wenn es die alten Machthaber nicht geschafft hatten, ihnen das Rückgrat zu brechen, dann sprangen mit Geschick die neuen dafür ein, so daß sie schließlich - abgeschoben, vergessen oder schon gestorben - für den einzelnen nicht mehr erreichbar sind, wenn er heute ihre Glaubwürdigkeit nachprüfen will. Woher soll er dann aber die Gewißheit nehmen, daß er sich damals geirrt hat? Ist es nicht ebensogut möglich, daß sich unter dem Druck heutiger Anschauungen Erinnerungen verfälschen? Dieser Druck ist nicht neu. Seit Generationen wird das Heute gegen das Gestern ausgespielt, werden die Zeugen einer vergangenen Bewegung nicht mehr angehört, weil angeblich die Geschichte bereits das Urteil gefällt hat. Dieser alberne Satz, bei den DDR-Oberen sehr beliebt, richtet sich nun gegen sie selbst. Wer ist "die Geschichte", daß sie ein Urteil fällen könnte?

Es gibt genügend Anlässe zu fragen, ob etwas, das gescheitert ist, darum auch sinnlos war. Gründlicher als Jesus, dessen Kreuzigung das Volk forderte und dafür der Überlieferung nach die Begnadigung eines Mörders in Kauf nahm, konnte man gar nicht gescheitert sein. Daraus ersieht man die Fragwürdigkeit der Behauptung, daß alles, was sich durchgesetzt hat, das Bessere sein soll. Das ist nichts als ein sehr verbreitetes, vielen Generationen immer wieder eingehämmertes Vorurteil. Es wird gestützt durch die Unmöglichkeit, den Gegenbeweis zu führen, welche aus der simplen Tatsache folgt, daß man die Zeit nicht zurückdrehen kann. In früheren Gesellschaften wurde daraus aber der Schluß gezogen, daß man die Vergangenheit besonders sorgfältig bewahren muß, vorwiegend in der Erinnerung, dann aber auch materiell, wie die Bestattung der Toten zeigt. Diese frühe Kultur ist (Übersetzung von "bewahren") eine wirklich konservative. Ich bekenne mich zu diesem Begriff in seinem ursprünglichen Sinne und werde auf ihn noch mehrmals zurückkommen. Zunächst will ich nur festhalten, daß eine Anschauung, die grundsätzlich der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit mangels Beweises recht gibt, alles andere als konservativ ist. "Was gut ist, setzt sich durch", dieser Satz schließt ein, daß man das andere, Verdrängte, nicht mehr zu kennen braucht, auch wenn der Sieg vielleicht mit 99:98 sehr knapp ausgefallen ist und auf der Verliererseite große Potenzen (oder sogar Reserven) vorhanden waren. Dieser Satz dient dazu, den Blick für notwendige Korrekturen zu verstellen. Er ist der Opportunismus selbst, die plumpe Rechtfertigung des Bestehenden.



Beobachtung 3

Dieses Vorurteil vorausgesetzt, genügt zum Systemvergleich ein einfacher Trick. Was nämlich in der alten (und nun der neuen) Bundesrepublik als angenehm erscheint, wird für gut erklärt wegen des Systems, das weniger Erträgliche für schlecht trotz desselben. Umgekehrt soll in der DDR so vieles schlecht gewesen sein wegen des Systems, während unbestreitbare Vorzüge ihm zum Trotz vorhanden (oder eben wegen ihrer Herkunft aus der DDR gar nicht erstrebenswert) gewesen sein sollen. So steht - bei aller Diskussionsfreiheit im einzelnen - das Gesamtergebnis immer schon fest. Ein perfides Verfahren, weil auch hier der Gegenbeweis kaum möglich ist. Es braucht seine Zeit, bis genügend Neu-Bundesbürger die Verhältnisse von innen so gut kennengelernt haben, daß sie sehen: Licht und Schatten stehen im Zusammenhang; auch die Nachteile existieren wegen des Kapitalismus, und viele seiner hochgepriesenen Vorzüge zerplatzen angesichts der weiteren Entwicklung wie Seifenblasen. Inzwischen aber sind längst vollendete Tatsachen geschaffen, welche die ehemaligen DDR-Bürger, die solche Erkenntnisse gewinnen, zugleich zu Teilen des neuen Systems gemacht haben. Es finden große Veränderungen in extrem kurzer Zeit statt, und ebenso schnell verändern sich die Menschen, die sie wahrnehmen. Zur Erlebnismasse der Vergangenheit, die angeblich aufgearbeitet werden soll, kommen immer neue Realitäten hinzu, die vorrangig bewältigt werden müssen. So kann man das scheinbar Selbstverständliche gerade nicht voraussetzen; daß die Menschen über ihre eigene Befindlichkeit Bescheid wissen. Da wir kein objektives Maß dafür besitzen, können wir nur vergleichende Schätzungen zwischen gegenwärtigen und vergangenen Zuständen vor-nehmen und kommen in Schwierigkeiten, wenn diese gar nicht mehr vergleichbar sind. Das Ausmaß der Selbsttäuschung wird deutlich durch die häufigen körperlichen und seelischen Zusammenbrüche und die mittlerweile für normal gehaltenen dauerhaften - und dauerhaft mit Medikamenten unterdrückten - Leiden. Man war ja nicht nur in der DDR einfallsreich, wenn es darum ging, sein Leben und Tun zu rechtfertigen. Wer irgendwie spürt, daß seine Kräfte (mehr als altersentsprechend) abnehmen, kann sich vielleicht mit einer überdurchschnittlichen Zunahme seines Wohlstandes herausreden und wird (muß!) letzteres dann auch zum entscheidenden Maßstab für Lebensqualität erklären. So geschehen in einem der seltenen Fälle, wo tatsächlich eine Aussage quantifizierbar war. Untersuchungen des Leipziger Sexualwissenschaftlers Starke hatten ergeben, daß 35% der Frauen in der DDR, aber nur 23% der Frauen in der BRD im allgemeinen den gewünschten Orgasmus erreichen. Kommentiert wurde dieses Ergebnis mit solch absurden Erklärungen wie: Die Frauen in der DDR hatten keine Porno-Videos und "mußten" es deshalb (leider sozusagen) selbst machen. Was für eine Verkehrung der Werte: Das Ursprüngliche wird zum Ersatz für den Ersatz erklärt. Ich dagegen bin sicher, daß, wenn ein Maßstab für die Befindlichkeit einer Gesellschaft gesucht wird, kein besserer zu finden ist als die Fähigkeit zur Lust, die niemals vom sonstigen Leben abgetrennt ist, sondern auf dieses ausstrahlt und von ihm wieder gespeist wird. Natürlich gab es da in der DDR erhebliche Einschränkungen, und 35% sind wenig genug. Sollten aber die Frauen aus der DDR in Zukunft besagtes West-Niveau erreichen, dann hätten sie (und mit ihnen die Männer) wohl Grund, dem verlorenen - nicht eben großen - Vorsprung nachzutrauern. (Es gibt eine weitere quantitative Aussage grundsätzlicher Art: Auf dem Territorium der DDR existier(t)en mehr Pflanzen- bzw. Tierarten als in Westdeutschland.) Zu vermuten ist, daß nicht trotz, sondern wegen der Verfügbarkeit von Lust als Ware die inneren Kräfte vieler Menschen abnehmen, daß die Konsumgesellschaft es also sehr nötig hat, sich ständig sexy, fit, happy usw. darzustellen. Und Leute mit natürlicher Naivität, die sich ein solches Auseinanderklaffen von Schein und Sein gar nicht vorstellen konnten, fielen so lange darauf herein, wie nötig war, um auch sie in diesen Zug zu setzen, für den es vermutlich kein Zurück gibt: Ist die Abhängigkeit von einer "Lust-Industrie" erst einmal groß genug, dann können die Lust-Hilfen nur immer noch zahlreicher und raffinierter verabreicht werden. Diejenigen aber, denen das auch nichts mehr bringt, verbünden sich in wieder größer werdender Zahl mit der Gegenbewegung, die spätestens seit dem Christentum existiert und nicht etwa für ursprüngliches animalisches Leben eintritt (das wäre konservativ), sondern Lust gleich ganz einschränkt und abwertet. Auch das "Neue Deutschland (Sozialistische Tageszeitung)" schrieb nach der Veröffentlichung der Untersuchung Mitte 1990 in typischer Verblendung (statt sie für sich auszuschlachten!): "Als gäbe es jetzt nichts Wichtigeres..." Ja, gibt es denn etwas Wichtigeres als Lust?

Klar, da sollte und soll uns die Arbeit als erstes Lebensbedürfnis aufgedrückt werden. Nun habe ich nichts gegen Arbeit. Wenn sie Spaß macht, ist sie sogar etwas Wunderbares. Das kann sie aber nicht sein, wenn sie von Lust getrennt oder gar als deren Ersatz betrachtet wird. Inzwischen ist zwar der - mehr oder weniger hilflose - Versuch gescheitert, die Menschen durch Fünfjahrpläne und Parteitagsbeschlüsse zum Arbeiten zu bewegen. Viel wirksamer ist es jedoch, sie bei Strafe des Existenzzusammenbruchs dazu (oder zur Arbeitssuche) zu zwingen. Diese siegreiche Methode erfaßt die Besitzlosen ebenso wie die Besitzenden. Neid auf letztere ist nicht angebracht; denn was nützen die angehäuften materiellen Güter, wenn für ihr Festhalten und weiteres Zusammenraffen alle Zeit und Kraft gebraucht wird, wenn folglich weder Zeit noch Kraft verbleiben, sie zu genießen?

    Seid nur nicht so faul und so verweicht,
    Denn Genießen ist bei Gott nicht leicht.
    Starke Glieder braucht man und Erfahrung auch,
    Und mitunter stört ein dicker Bauch.

                (Bertolt Brecht)

Das Genießen wird dadurch unmöglich, daß jeder gezwungen wird, seine Kräfte zu verbrauchen bei der Herstellung neuer Genußmittel.



Beobachtung 4

Kaum jemand sehnt sich nach der Herrschaft der SED oder gar ihrer letzten Führung zurück. Als diese vorbei war, durfte man also - auch über die wenigen Tage nach dem 9. November 1989 hinaus - eine allgemeine Freude erwarten. Statt dessen entsprach die teils aggressive, teils grämliche Grundstimmung eher der unablässigen Suche nach den Ursachen einer Niederlage, und das nicht etwa bei den Entmachteten (manchen von denen war sogar Erleichterung anzumerken), sondern bei jenen, die ihr Ziel, die Entmachtung des Gegners, erreicht hatten. War dies etwa im historischen Sinne gar kein Sieg? Wurde da vielleicht nur eine riesengroße Festung geschleift, in der das Leben zwar endgültig unerträglich geworden war, die sich aber gar nicht am Hauptplatz des Kampfes befand und daher auch nicht den Weg für endgültig bessere Verhältnisse freigeben konnte? Denn was für ein Sieg ist das, der die Sieger auseinandertreibt, statt sie zu einen; der ihre Kräfte mehr lähmt, als daß er neue freisetzt?

Mir scheint, die neue alte Gesellschaft kann nicht so viele Sieger gebrauchen, weil sie davon lebt, daß es in ihr Verlierer gibt. Es gehört bereits zum neuen Existenzkampf, daß jeder jedem Schuld zuschiebt, daß Vorwürfe und Verdächtigungen an der Tagesordnung sind. Die "freie Konkurrenz" ist es, die keine Freude über die endlich gelungene Entmachtung der Bonzen zuläßt, sondern jeden zwingt, seine irgendwie errungene vorteilhafte Stellung gewinnbringend auszunutzen. Zu diesen einträglichen Betätigungen gehört auch die Suche nach Schuldigen dafür, daß die Entmachtung nicht früher gelang, daß die SED-Herrschaft so lange dauerte.



Zeitproblem 1

Ja, warum dauerte sie so lange?

Es ist üblich geworden, von einem einheitlichen Zeitraum zu sprechen, gleich noch das 3. Reich und die Nachkriegszeit einzubeziehen: "56 Jahre Totalitarismus und Unterdrückung". Dabei wird zunächst einmal unterschlagen, daß es 44 Jahre "Ostzone" ohne Krieg gegeben hat, dagegen nur 6 1/2 krieglose Jahre in Nazi-Deutschland, die Besetzungen und den faktischen Bürgerkrieg nicht einmal mitgerechnet. Der immer wieder versuchten - zumindest weitgehenden - Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus will ich einen noch tiefer greifenden Unterschied entgegen-halten: Die Nationalsozialisten suchten sich bei anderen Völkern ihre Millionen Opfer, die Kommunisten (in der Sowjetunion, in China, in Kambodscha) ganz überwiegend in den eigenen Reihen. Stefan Hermlin sagte zutreffend von den Opfern des Stalinismus: "Das sind doch unsere Toten!" Übrigens muß man, wenn schon verglichen werden soll, bei vergleichbaren Landesgrößen bleiben und dem Deutschland der Nazis dann die DDR, der Sowjetunion aber die USA gegenüberstellen. Auch die nach Amerika ausgewanderten Europäer suchten ja ihre Opfer bei den Indianern und Schwarzafrikanern. Das Problem, warum der Kapitalismus vorwiegend explosions-artige, der Sozialismus vorwiegend implosionsartige Katastrophen hervorrief, will ich später noch einmal besprechen.

Jetzt zurück zur DDR und zu der Frage, warum sie nicht früher am Ende war. Mit dieser griffigen Parole "40 Jahre Diktatur, Unfreiheit, Unrecht" usw. usf. macht man den Menschen gerade das unmöglich, was man angeblich von ihnen verlangt, die Aufarbeitung der Vergangenheit. Mit allerhöchster Billigung brauchen sie nunmehr die Unterschiede zwischen den Etappen der DDR-Geschichte nicht zu sehen, auch nicht, daß diese stets ein Teil der gesamtdeutschen Geschichte war, die alles andere als geradlinig verlief. War doch die Strömung, die vom Kriegsende ausging und in ganz Deutschland ein Umdenken hervorrief, etwas völlig anderes als der Sog der Industriegesellschaft, der schließlich die DDR einschluckte. In einem vom Faschismus befreiten Deutschland gab es sehr wohl Gründe, nicht nur über die Auswüchse, sondern über die Grundfehler des Kapitalismus zu sprechen. "Der Kapitalismus ist zusammengebrochen. Wir sind die letzten, die ihm eine Träne nachweinen. Eine neue Zeit bricht an, sie trägt sozialistisches Gepräge." Das schrieben nicht etwa Kommunisten oder Sozialdemokraten; diese Worte standen in einem Wahlaufruf der CDU Westfalen vom 11. Oktober 1946. Welche Veränderung im Westen allein in den 10 Jahren bis zum KPD-Verbot, welche Veränderung also auch im Verhältnis der beiden deutschen Staaten! Unbestreitbar ist, daß viele Deutsche nach 1945 einen grundsätzlich anderen Weg einschlagen wollten, auch gegenüber der Zeit vor 1933. Unbestreitbar ist, daß viele Nutznießer des Nationalsozialismus sich in der BRD viel besser aufgehoben fühlten und darum gegebenenfalls die DDR verließen.

Unbestreitbar ist auch, daß sehr viele DDR-Bürger sich über lange Zeit immer noch eher mit ihrem Staat identifizieren mochten als mit Adenauers Bundesrepublik. Grundsätzlich änderte sich das erst zur Zeit der "Neuen Ostpolitik", aber vor allem insofern, als beinahe die ganze DDR-Bevölkerung im Bündnis mit Brandt und Schmidt, gegen Strauß und Kohl (und beim Koalitionswechsel gegen Genscher) war. In der DDR kam es neben dem vielen Unerträglichen (das heute so hell beleuchtet wird) immer wieder auch zu Entwicklungen, die hoffen ließen (über die heute kaum mehr gesprochen wird). Ich erlaube mir, zunächst von meinen eigenen Lebensverhältnissen auszugehen.

Natürlich unterlagen die DDR-Künstler in den 50er und 60er Jahren einer unzumutbaren, oftmals geradezu grotesken Reglementierung. Aus heutiger Sicht ist allerdings auffällig die Ähnlichkeit damaliger Argumente mit der nun wieder so beliebten Berufung auf die Meinung des Publikums, "des Verbrauchers", wie man jetzt fast sagen könnte. Die dazwischen liegenden 70er und 80er Jahre brachten eine von der früheren und der späteren Zeit erheblich abweichende Situation, deren Besonderheiten sich anzusehen lohnt. Die Grenzen dessen, was die offizielle Kulturpolitik zwar nicht gerade unterstützte, aber tolerierte, waren weiter geworden. Steter Tropfen höhlt den Stein, man mußte sich eben mit den Funktionären immer weiter herumschlagen, sie auch mit Argumenten gewinnen, sie nötigenfalls gegeneinander ausspielen. Dazu war Solidarität unter den Künstlern notwendig, die man herstellen konnte, wenn man sich mit zuverlässigen Kollegen verbündete.

Solche Erfolge waren nun wirklich nur möglich trotz der Partei-Diktatur. Das muß aber genauso gelten für die Gelegenheiten, in westlichen Ländern aufzutreten. Der Staat konnte diese gar nicht als Privileg verschenken, wie heute gern behauptet wird, denn auftreten konnte nur jemand, der vom Westen aus eingeladen wurde. Durch immer neue Vorstöße östlicher Künstler und westlicher Veranstalter wurden schließlich relativ häufige Gastspiele möglich. Die Arbeit blieb mühsam, genauso im Inneren, aber ich gewann Kraft daraus, daß ich Kontakt zu vielen Menschen bekam durch meine Musik, obwohl diese nicht leicht zu konsumieren ist, sondern konzentriertes Hören voraussetzt.

Solche Kommunikation geschah unterhalb der politischen Ebene, womit auch gesagt sein soll, daß sie tiefer gehen konnte als politische Verlautbarungen, wie sie etwa zur "Wende"-Zeit erwartet wurden. Es macht nachdenklich, daß nun, da diese Verlautbarungen jederzeit möglich (und weitgehend folgenlos) sind, direkte musikalische Kontakte eher schwieriger werden. Die DDR bot in wesentlichen Punkten bessere Arbeitsbedingungen wegen des Systems. Da man, wie schon gesagt, bei bescheidenen Ansprüchen billig leben konnte, hatte man die Möglichkeit, das Geld aus vielen Aktivitäten herauszuhalten. Ich habe beispielsweise nie einen Auftrag angenommen, bei dem ich künstlerische Kompromisse hätte machen müssen. Ich habe oft ohne Honorar musiziert, wo es mir und anderen Freude bereitete. Wer nämlich für dargebotene Musik Geld bezahlt, erwartet eher eine Dienstleistung ohne eigene Anstrengung. Mir ging es dagegen um das Einfachste: Menschen zum eigenen Musizieren anzuregen. Ich mache auch hier (analog zu Beobachtung 3) geltend, daß Musik vom Ursprung her keine Ware ist und daß es nicht gut sein kann, wenn das Ursprüngliche vom Draufgesattelten verdrängt wird. Auch ich habe aufreibende Kämpfe um Schallplatten und Medienpräsenz geführt. Wenn es mir um etwas leid tut, dann um die Kraft, die ich dafür verbraucht habe, statt mit allem Nachdruck für lebendiges Musizieren einzutreten.

Man sieht, daß die Verhältnisse höchst widersprüchlich waren, daß es aber keineswegs nur egoistische, sondern ganz allgemeine Gründe gab, eine Alternative zum Kapitalismus nicht einfach untergehen zu lassen. Freilich führte das zu dem schwierigen Versuch, die DDR gegen sich selbst, gegen die eigenen Unmöglichkeiten zu verteidigen. Er konnte letztlich nicht gelingen, weil die Machthaber an zwei Fronten geschwächt wurden, an der ideologischen und an der ökonomischen, und weil wir Künstler weder die Macht noch die Fähigkeit besaßen, etwas zur Beendigung des aussichtslosen ökonomischen Kampfes beizutragen. So wirkte dieser auch auf die Kunst zurück, indem er das gesellschaftliche Klima insgesamt verschlechterte. Immerhin gab es noch 1987/88 einen hoffnungsvollen Ansatz in Form der Reiseerleichterungen, nach denen zur allgemeinen Überraschung mehr als 99% der gen Westen Reisenden in die DDR zurückkehrten. Auf wessen Veranlassung diese Entwicklung gestoppt wurde, dürfte schon deshalb im Dunkeln bleiben, weil der ganze Vorgang einem totalen Vergessen anheimgefallen ist, das angesichts der sonstigen Aufarbeitungsmasse von DDR-Vergangenheit recht seltsam anmutet. Man sieht aber, wenn man zur Erinnerung bereit ist, daß bis zum Ende selbst in hohen Positionen Gegenkräfte am Werk waren, die zwar nicht zur Macht gelangen konnten, bestimmt jedoch entscheidenden Anteil daran hatten, daß schließlich der unabwendbare Systemwechsel friedlich geschah. Versuch einer Antwort auf die Frage: "Warum so lange?" Die DDR bestand genau so lange, bis ihre vom Anfang her durchaus vorhandene Legitimation endgültig aufgezehrt war. In diesem Spannungsfeld handelten die Menschen, gewannen Überzeugungen und trafen Entscheidungen je nach ihrer persönlichen Erfahrung, die entweder von der antikapitali-stischen Nachkriegsströmung (noch einmal auflebend in der 68er-Bewegung) oder vom Sog der Industriegesellschaft - der Orientierung an Weltmarkt und D-Mark - stärker geprägt waren. Daß die letzteren immer mehr und die ersteren immer weniger (oder jeden-falls schwächer) wurden, führte schließlich zur Auflösung des ganzen Systems.



Zeitproblem 2

Damit ist natürlich auch die Vorstellung vom Tisch, daß die Gesellschaftsordnungen sich vom "Niederen zum Höheren" entwickeln, daß von der ursprünglichen klassenlosen Gesellschaft auf Umwegen über verschiedene Klassengesellschaften eine Spirale zur wiederum klassenlosen Gesellschaft, genannt Kommunismus, führt. Für Leser, denen dieses Schema nicht vertraut ist, sei es hier dargestellt.

 



Zugegeben, aus heutiger Sicht erscheint das ziemlich naiv. Ich gestehe, daß ich diese Lehre lange für richtig hielt, daß sogar 1985 nach Gorbatschows Amtsübernahme der im Schwinden begriffene Glaube noch einmal auflebte. Ich erkenne, daß ich geirrt habe, aber ich klage mich nicht dafür an. Es wird sich noch zeigen, ob nicht der gegenwärtige Glaube an die Wunder der Technik ein viel haltloseres Hirngespinst ist. Es wird sich noch zeigen, ob nicht der Sieg der neuen Technologien viel verheerendere Folgen hat als der gescheiterte Aufbau des Kommunismus. Auch ist es nicht die schlechteste Gesellschaft, in der ich mich befand mit der Vorstellung, daß die Menschheit im Wege einer Spirale zu ihren Anfängen zurückkehrt. "...das Paradies ist verriegelt und der Cherub hinter uns; wir müssen die Reise um die Welt machen und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist."

Heinrich von Kleist beschreibt die Suche nach einer grundsätzlich besseren Lebensform viel allgemeiner und wäre daher erst dann zu widerlegen, wenn niemand zum Widerlegen mehr da wäre: nach den letzten Tagen der Menschheit. Aber auch anhand des konkreten Gesellschaftsmodells muß auseinandergehalten werden: Was ist durch die jüngste Entwicklung wirklich erwiesen und was wurde - aus mehr oder weniger durchsichtigem Interesse heraus - unzulässigerweise geschlußfolgert. Erwiesen ist jetzt, daß sich die Spirale auf dem eingeschlagenen Weg nicht schließt, weil der "Aufbau des Sozialismus" immer mehr parallel zu dem des Kapitalismus (dann Imperialismus genannt) verlief. Grund: Der Kapitalismus bestimmte die Bedürfnisse, die befriedigt werden sollten. Er tat das natürlich schon vor 1917, und er hat nie aufgehört, es zu tun, so daß die Sozialisten stets irgend etwas noch erreichen mußten, bevor sie das Eigene gestalten konnten und wollten. Sie ließen sich die Mentalität des Rauchers aufdrängen, der immer wieder von neuem "nur noch die letzte" Zigarette raucht, bevor er das Rauchen endgültig aufgeben will. Die Zigaretten werden stärker, die Autos größer, aus Radios werden Fernsehgeräte, aus diesen Videos, aus Schreibmaschinen werden Computer, immer muß dieser eine Schritt dem Kapitalismus noch hinterhergelaufen werden, bevor ...... die Menschen dann endlich den richtigen Kapitalismus wollen! Das Einbiegen nach links hat im Grunde nie stattgefunden; der sozialistische Weg lief neben der nach oben gerichteten Tangente her, so daß ein 3. Weg dazwischen gar keinen Platz mehr hatte:




Ein wirklicher 3. Weg konnte und kann nur links davon zu suchen sein (und führt vielleicht wieder in die "3. Welt" zurück, von der die gesamte Menschheitsentwicklung ausging). Ein entsprechender Wegweiser ist momentan weit und breit nicht zu sehen. Erwiesen ist damit noch nicht, daß es ihn nicht geben kann. Dies zuzugestehen, gehört zur Redlichkeit. Viel wichtiger ist es aber, die folgende Frage zu beantworten: Die nach oben gerichtete Tangente, wenn sie denn der einzig begangene Weg bleibt, wohin führt sie? Da sie darauf beruht, daß die Ausbeutung von Menschen durch andere Menschen zwar nicht abgeschafft, aber immer stärker überlagert wird von der Ausbeutung der Natur durch die Menschen, kann dort oben nur die endgültige Aufzehrung der Naturvorräte, also der Untergang erreicht werden. Das Lied, mit dem Wolf Biermann sein berühmt gewordenes Kölner Konzert begann, hat nichts, aber auch gar nichts an Aktualität eingebüßt:

    So oder so, die Erde wird rot,
    Entweder lebend rot oder tot rot.

Letztere Gefahr verstärkt sich dadurch, daß - jedenfalls in Europa - immer mehr Menschen an der Ausbeutung der Natur beteiligt werden. Folglich nimmt hier die Zahl derjeningen ab, die es zum fundamentalen Widerstand treibt. Ein Grundirrtum der Sozialisten: Während Marx und Engels den Raubbau an der Natur in diesem Ausmaß nicht kannten und auch nicht voraussehen konnten, blieben ihre Nachfolger auf die politischen Kämpfe zwischen Menschen fixiert. Daß diese von einem "Kampf gegen die Natur" überlagert waren, mußten erst die verschiedenen grünen Bewegungen ins Bewusstsein bringen. So etwas wie ein Zusammenschluß von rot und grün fand jedoch nie statt, und auch zwischen rosa und grün scheint er nicht recht zu gelingen. Wie denn auch, wenn am Tisch der 1. und 2. Welt zwar noch immer ein Kampf um die Anteile stattfindet, aber Einigkeit darüber besteht, daß er stets reicher gedeckt werden soll.

Zu diesem Bild muß ich anmerken, daß ein reich gedeckter Tisch, sofern er gute Speisen und Getränke trägt, etwas durchaus Erstrebenswertes ist. Die für mich tatsächlich wirksame Verbesserung seit 1990 liegt sogar fast allein in der unvergleichlich größeren Vielfalt der Eßkulturen. Merkwürdig nur, daß ausgerechnet diese vom Tisch der 3. Welt importiert sind, während der Tisch der 1. Welt zusammenzubrechen droht unter der Last von Konsum-gütern. Sie sind es natürlich in erster Linie, die an den Naturvorräten zehren (schon die Nahrungsmittelverpackungen scheinen ja oftmals wichtiger zu sein als die Nahrungsmittel selbst). Erst recht gilt das natürlich für die vielen Dinge, die den Menschen als Gegenwert für die Verausgabung ihrer Arbeitskraft geboten werden, wofür wieder Maschinen produziert werden müssen, um die Arbeit zu erleichtern, was aber wiederum nur ermöglicht, mehr zu produzieren und die Menschen von noch mehr Produkten abhängig zu machen.

Die Arbeiter in West und Ost wehren sich zwar noch immer, wenn sie selbst allzu sehr ausgebeutet werden sollen, haben aber kaum etwas gegen die Ausbeutung der Natur, solange sie daran beteiligt werden und solange die Folgen nicht allzu offensichtlich sind. So mußten die östlichen Hoffnungen auf revolutionäre Bewegungen im Westen ebenso illusorisch bleiben wie die Hoffnung von West-Grünen und -Linken auf eine breite 89er-Bewegung im Osten, die imstande gewesen wäre, die kapitalistische Entwicklung zu korrigieren, statt sie noch weiter voranzutreiben. Seitdem letzteres geschehen ist, wird die 2. Welt praktisch zur 1. Welt hinzugerechnet, und die Frage ist nur noch, ob sich die 3. Welt gegen die Naturzerstörung empört, die von der 1. und 2. Welt ausgeht, oder ob es auf irgendeine Weise gelingt, auch die 3. Welt selbst in diese Entwicklung einzubinden. Wenn tatsächlich der überwiegende Teil der Weltbevölkerung durch ein Leben auf "Kredit" - Kredit bei der Natur nämlich, Kredit, der nicht zurückgezahlt werden kann - korrumpiert wird, dann ist der Widerstand größerer Menschengruppen nicht mehr zu organisieren. Unausweichlich ist dann allerdings der Widerstand der Natur gegen die gesamte Menschheit. Dabei ist keine Gnade zu erwarten; denn die Menschen haben lange schon an Kräfte gerührt, die sie nicht im mindesten überschauen. Sie haben Gleichgewichte in der Natur verschoben, ohne die Gesamtstruktur zu kennen, die auf solche Veränderungen reagiert.

    Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir!

So spricht der Weltgeist zu Goethes Faust.



Beobachtung 5

Immer, wenn Widerstand verebbt, sollte man fragen, was geringer geworden ist: Sind es die Probleme, oder ist es die Kraft der Menschen, sich ihnen zu stellen?

Es ist durchaus normal, daß die Menschen Dinge tun, die ihnen Nutzen versprechen, und zwar nicht für irgendwann, sondern für heute und morgen. Es ist verständlich, daß sie dem, was nützlich scheint, nicht dauernd mißtrauen und die Methode, es zu erlangen, nicht pausenlos hinterfragen. In einer Welt, die sich einigermaßen im Gleichgewicht befände, wäre das ein sinnloses, ja geradezu schädliches Verhalten. Freilich wäre in einer solchen Welt auch davon auszugehen, daß das Tun der Mitmenschen in die gleiche Richtung verläuft, die man selbst verfolgt, daß sich die Interessen des einzelnen und die der Gemeinschaft im wesentlichen decken.

Dies war in der DDR Staatsdoktrin, von der die Praxis natürlich erheblich abwich. Jetzt postuliert schon die Theorie der Marktwirtschaft das Gegenteil; die Reste einer Solidargemeinschaft werden dem angeblich notwendigen totalen Wettbewerb geopfert. Was die Kommunisten für ihre eigene (fernere) Zukunft prophezeiten, das Absterben des Staates, geschieht nun unter kapitalistischen Vorzeichen. Aber der Staat stiehlt sich nicht ersatzlos aus seiner Verantwortung; mit jedem Schritt seines Rückzuges wächst vielmehr die Macht der Wirtschaft. Wir DDR-Bürger, gegenüber der staatlich verordneten Gehirnwäsche skeptisch geworden, waren nicht unbedingt darauf vorbereitet, daß "oben" keineswegs nur die politische Führung sein muß und daß Gehirnwäsche um so besser funktioniert, je unauffälliger sie geschieht und je mehr Institutionen die Waschgänge unter sich aufteilen. Daß es nichts Wichtigeres geben darf als die Eigendynamik der Wirtschaft, hat man den Leuten längst erfolgreich eingehämmert. Um aber das noch immer vorhandene Urvertrauen besser ausnutzen zu können, wird die Verantwortung an Spezialisten gegeben. Sie sind die Priester der Gegenwart, freilich erheblich mehr Priester für erheblich mehr Götter. In wessen Interesse sie handeln, ist kaum zu durchschauen, und auch hier gilt wieder: Je länger man sich ihrer bedient, um so schwerer sind sie loszuwerden. Spezialisierung ist die Grundtendenz in allen Lebensbereichen. Für jede elende Kleinigkeit gibt es Fachleute, die sich kaum noch untereinander verständigen können. So werden ihre Fachgebiete auch getrennt voneinander betrachtet.
Die "Unabhängigkeit" ihrer Meinungen ist also eher die Unabhängigkeit von allgemeineren und tieferen Erkenntnissen. An die Unabhängigkeit von den Geldgebern zu glauben, fällt dagegen mittlerweile sehr schwer. Zu viele Spezialisten werden vorgeschickt, um Meinungen zu verbreiten, die bestimmten - fast immer wirtschaftlichen - Interessen nützen. Oft wird aber auch so vorgegangen, daß auf bestimmte Fragen bestimmte Fachleute angesetzt werden und gar nicht auffällt, daß auch Vertreter anderer Wissensgebiete mitreden müßten. Deutsch-deutsches Beispiel: Immer da, wo es vorteilhaft erscheint, werden vom Westen die Fragen politisch gestellt. Daß politische Unterdrückung in der DDR eine große Rolle spielte, kann nicht bestritten werden. Mit Beispielen, wie sie funktionierte, macht man nun immer wieder den Ostdeutschen - die sie geduldet haben - Vorhaltungen und läßt die Westdeutschen - mit wohligem Schauer - erleben, wie viel besser doch ihre eigene Gesellschaft sei. Was nicht auffällt: daß es in der DDR weitaus geringere ökonomische Zwänge gab; erst jetzt lernt sie der Neu-Bundesbürger allmählich in ihrer durchschlagenden Wirkung kennen. Aber es bleibt dabei: Spricht man über Unterdrückung, werden keine ökonomischen Fragen gestellt. Nehmen wir die Stasi-Debatte. Kenner der Materie werden aufgeboten, um - meist negativ - die Frage zu beantworten, ob man mit Stasi-Leuten sprechen konnte, ohne jemandem zu schaden. Was wiederum nicht auffällt: Jemandem zu schaden, das ist ja ein (wenn nicht der) Hauptinhalt jeder wirtschaftlichen Unternehmung! Schon bei völlig legalem Wirtschaften gilt es, den Konkurrenten auszuschalten (man kann das nicht besser zeigen als Friedrich Dürrenmatt in seinem Hörspiel und Theaterstück "Die Panne") und dem Kunden das Geld aus der Tasche zu ziehen, wieviel mehr erst bei den zahllosen halblegalen Aktionen bis hin zum organisierten Verbrechen, das zwar vordergründig verurteilt, aber in den massenhaft produzierten "Kunstwerken" vom harmlosen Krimi bis zum Horrorfilm glorifiziert oder zumindest hoffähig gemacht wird. Eine Gesellschaft, in der jede Niedertracht milde beurteilt, ja bewundert wird, wenn sie nur Gewinn abwirft, entrüstet sich über bezahlte Spitzel - und selbst von denen, von Doppel- und Dreifachagenten, wimmelt es nur so in den Filmen! Es liegt mir fern, ein System zu verteidigen, in dem man sich Vorteile durch Partei- oder Stasi-Beziehungen verschaffen konnte; daß dies aber schlimmer sein soll als die Ausnutzung von Geschäftsbeziehungen zum Nachteil anderer, kann ich nicht einsehen. Menschen hinterrücks zu verraten, nachdem man ihnen vielleicht sogar freundschaftliche Gesinnung vorgespielt hat, ist immer eine verachtenswerte Sache. (Auch Goethe soll - nach einer Untersuchung des amerikanischen Germanisten Daniel Wilson - Studenten und Professoren bespitzelt haben. Werden nun alle Goethe-Straßen umbenannt?) Daß dies in der DDR immer häufiger geschah, konnte von den eigenen Bürgern vor allem deshalb angeprangert und sogar beendet werden, weil SED und Stasi sich selbst zum Hauptakteur erklärt und ins Zentrum der Aufmerksamkeit gestellt hatten. Genau das wurde im Westen vermieden. Weil jeder längst seine Rolle spielt in dem kapitalistischem Szenarium, muß jeder letztlich auch einsehen, daß er das Räderwerk in eigener Person mitbedient. "Du mußt ein Schwein sein in dieser Welt, du mußt ein Schwein sein..." (erfolgreiches Lied der "Prinzen") Selbst wenn es mehr Aussteiger geben sollte als bisher, vereinter Zorn wird ins Leere gehen, weil er sich niemals auf ein Zentrum hin bündeln kann. Die Rollenverteilung scheidet nicht nur reich und arm voneinander (oder bringt - besser gesagt - in einem vielfach gestaffelten System ebenso gestaffelte Interessenlagen hervor), sondern die allgemeine Spezialisierung läßt auch Menschen in ähnlicher sozialer Lage ganz verschiedene Sprachen sprechen. Es sind also gerade die Schattenseiten der kapitalistischen Gesellschaft, die sie zugleich am Leben erhalten.

Ein anderes Beispiel für getrennte Betrachtungsweisen, diesmal das öffentliche und das persönliche Leben betreffend. Wenn man den Menschen vorhält, sie hätten sich konsequent von ihrer Partei oder ihrem Staat trennen müssen, dann sollt doch solche Konsequenz erst rech bei den intimeren Verhältnissen erwartet werden. Nie aber habe ich gehört, daß in gleicher Weise jemand attackiert wurde, der schon lange mit einem ungeliebten oder sogar gehaßten Partner zusammenlebt, weil eine Scheidung erstens dem Image schadet, zweitens Geld kostet und drittens einfach anstrengend ist. Wo die zwischenmenschlichen Beziehungen zerrüttet sind, können auch keine tragfähigen politischen Zustände entstehen. Es ist ein Irrglaube, daß hier eine Arbeitsteilung möglich wäre. Was der einzelne nicht lebt, das setzt er in der Öffentlichkeit höchstens in verzerrter Form durch. Aus diesem Grund haben mich Reaktionen von Menschen, die bespitzelt wurden (im Extremfall vom eigenen Ehepartner), immer gewundert, wenn an erster Stelle die Empörung stand. Meine erste Frage wäre gewesen, warum ich nicht gemerkt habe, daß da etwas nicht stimmt. Von jemandem getäuscht worden zu sein, heißt immer auch, sich von ihm keinen deutlichen Eindruck verschafft zu haben. Daß man Akten benötigt, um diesen Eindruck nachzubessern, ist ein Zeichen für das Schwinden grundlegender menschlicher Fähigkeiten; denn was Intuition genannt wird, ist ja nichts mühsam zu Erlernendes, sondern das einfache, selbstverständliche Fühlen, welches dem Menschen mitgegeben ist (aber den Menschen nach und nach abhanden kommt). Die Illegalen früherer Zeiten (die niemals Akteneinsicht erhielten - das ist weder ein Plädoyer für noch gegen die Schließung der Akten; ich weiß auch nicht, wie man es machen soll, da die Situation einmal derart verdreht ist) waren von Anfang bis Ende auf Intuition angewiesen, wenn sie Freund und Feind auseinanderhalten wollten.
Ähnlich ist es bei jeder Entscheidung, die getroffen wird. Nehmen wir die Frage, ob man die DDR verlassen sollte oder nicht. Wer nicht aus purem Egoismus wegging (und ich wäre vorsichtig, das jemandem zu unterstellen), der mußte abwägen, ob die Lücke, die er im persönlichen Leben hinterließ, für alle Beteiligten leichter zu verkraften war als die unbefriedigende Situation im Lande. Das war nicht als Rechenexempel möglich, sondern nur, indem man das Für und Wider auf sich wirken ließ und irgendwann zu einem nicht bis ins einzelne erklärbaren Entschluß kam. Mit diesem war man letztlich allein, und man ist es noch heute. Wer aber von den Hiergebliebenen tatsächlich zu der Meinung gelangt, er sei damals inkonsequent gewesen, der muß doch jetzt, da ihn keine Mauer am Weggehen hindert, unverzüglich die Beine in die Hand nehmen und diese ganze "1. Welt" verlassen. Gründe, von denen man in 10 oder 40 Jahren sagen wird, jeder hätte sie wissen können, gibt es genug, wie ich noch genauer zeigen will. Es fragt sich, was schlimmer ist: in der Diktatur aus begründeter Angst oder in der Nicht-Diktatur aus Bequemlichkeit nichts zu unternehmen. Nur - wohin soll man gehen? Ja, wohin, das war das Problem für jemand, der oft genug die DDR als unterträglich empfand, aber keineswegs Bürger der Bundesrepublik werden wollte. Ich wußte schon damals: Wer mit einer Partei im Streit liegt, neigt zur milden Beurteilung der Gegenpartei. Leicht verfällt er dem einfachen, aber falschen Glauben: Der Feind des Gegners ist mein Freund. Wer diesen Irrtum vermied und auch zwischen den beiden Systemen keinen Platz finden konnte (wie in Zeitproblem 2 gezeigt), für den blieb als Lagebeschreibung nur Christa Wolfs



Beobachtung 6

Ein weiteres Beispiel für getrennte Betrachtung bietet der Umgang mit dem § 218. Es gibt durchaus natürlich Gründe, die gegen Schwangerschaftsunterbrechung sprechen. Aber man kann sie schwerlich in einer Gesellschaft geltend machen, die von Natürlichkeit so weit entfernt ist wie die unsere. Wenn Spezialisten für den Schutz der ungeborenen Kinder sich nicht damit befassen, wie man die Lebensbedingungen der geborenen Kinder sichern kann, ist das schon problematisch genug. Wenn aber im gleichen politischen Lager andere Spezialisten genau damit beschäftigt sind, diese Lebensbedingungen zu verschlechtern, wird die Sache gefährlich gerade durch ihre Unsinnigkeit. Was bedeutet denn der Raubbau an der Natur und der ständig schärfer werdende Wirtschafts- und Arbeitskampf für die Kinder anderes als Entzug von Zeit und Aufmerksamkeit, Entzug von Spielräumen, Entzug von sauberer Luft, am Ende sogar Fehlen eines erträglichen Klimas? Konservative Grundsätze stehen also unvermittelt neben naiver - oder sehr berechnender - Fortschrittsgläubigkeit. Erst ein solches Gemisch, nicht Konservativismus allein, bezeichne ich als reaktionär. Es ist in sich widersprüchlich, bedeutet es doch, zurück in die Vergangenheit, beschleunigt in die Zukunft und absurderweise beides zugleich zu wollen. (Das zeigt sich in der Art und Weise, wie man einerseits - völlig unkritisch - die Fürsten wieder zun Ehren kommen läßt, andererseits alles Moderne nicht genug preisen kann.) Leider verspricht es schnellen und leichten Erfolg, ermöglicht es doch ein Bündnis, in dem sich Leute von altem Schrot und Korn ebenso aufgehoben fühlen wie Fanatiker der neuen Informationsgesellschaft. Man muß nur dafür Sorge tragen, daß die Unvereinbarkeit ihrer Bestrebungen nicht allzu sehr auffällt, dann hat man "Massen" hinter sich.



Zeitproblem 3

Wir sind auf eine weitere Schwierigkeit mit der Zeit gestoßen, denn nichts anderes ist ja letztlich dieses Pendeln zwischen Vergangenheits- und Zukunftssehnsucht auf Kosten der Gegenwart. Damit hängt auch zusammen, daß gesellschaftliche Rettungsversuche stets zu spät kommen und dadurch entweder sofort scheitern oder in unannehmbarer Form erscheinen, womit ihr Ende ebenfalls vorgezeichnet ist. Statt aber die reaktionären Entwicklungen als Ausgangspunkte für die Notwendigkeit revolutionärer Gegenbewegungen zu sehen (deren Mißerfolg man dann nur bedauern kann), ist es Mode geworden, den Revolutionären willkürliches Handeln zu unterstellen und die vorausgehenden revolutionären Situationen zu leugnen. Die Kette von Ursache und Wirkung soll an dieser Stelle einfach unterbrochen sein. Nicht nur an ihrem Mißerfolg, sondern an der Revolution selbst wird den Revolutionären die Schuld gegeben, Natürlich haben auch sie Schuld auf sich geladen. Aber wenn man diesen Ausdruck ernst nimmt, bedeutet es doch nur: Schuld ist bereits von anderen aufgehäuft worden. Denn daß die Menschheitsentwicklung insgesamt besser gelungen sei als das sozialistische Experiment, wird man kaum behaupten können.

Nehmen wir wieder den Versuch, in Deutschland einen Sozialismus aufzubauen, und stellen uns seinen Beginn vor, ehe die Nazis die Macht übernehmen konnten, im ganzen Land, ohne Druck von außen, mit den Menschen von damals, nicht im KZ ermordet oder ihrer Kräfte beraubt, vom Krieg ausgelaugt, vom Nazigeist verseucht. Diejenigen, die lieber das ganze Land in den Abgrund fallen ließen, als eine Verständigung mit nur irgendwie links denkenden Menschen zu versuchen, haben in erster Linie dazu beigetragen, daß nach der Katastrophe von dem nun möglichen sozialistischen Ansatz so wenig übrigblieb. Auch nach 1945 haben die Versuche, die sozialistische Bewegung zu schwächen, nie aufgehört. Eine heuchlerische Behauptung, der Sozialismus sei nur "an sich selbst" zugrundegegangen.

Aber man muß eine viel allgemeinere Frage beantworten, wenn man ernsthaft die Gründe suchen will, warum die übriggebliebenen Kommunisten und Sozialisten ihre Gesellschaft am Ende zu einem Zerrbild dessen gemacht haben, was sie hätte werden sollen: eine klassenlose Gesellschaft, in der die Menschen ohne Unterdrückung leben und arbeiten und in der sogar das Geld abgeschafft wird. Beantwortet werden muß die Frage, warum diese Zeitverzögerung bei Reformen und Revolutionen regelmäßig eintritt. Welcher innere Mechanismus liegt dem zugrunde? Diese Frage ist besonders dringend, weil zu befürchten ist, daß die bereits überfällige öko-logische Wende ebenfalls in verzerrter Form stattfinden wird, unmittelbar vor oder nach einer Katastrophe als bloße Verwaltung des Schadens, schlimmstenfalls als "Öko-Diktatur". Nicht auszuschließen, daß man dann wieder hilflos dasteht, das Geschehende nicht gutheißen kann, jedoch keine Alternative weiß. "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch." An diese Hoffnung, der Hölderlin Ausdruck gab, haben sich die Menschen immer wieder geklammert. Sind sie einem Trugbild nachgelaufen?



Das eigentliche Zeitproblem: der Fortschritt (1)

Ich meine: Ja, sie sind einem Trugbild nachgelaufen, wenn sie sich das Rettende - wie zumeist - in Gestalt noch weiteren Fortschritts vorstellten. Der Fortschritt, wer ist das? Die graue Eminenz, die immer mit am Verhandlungstisch sitzt und gegen die niemand etwas zu sagen wagt. Höchste Zeit also, sich einmal gründlicher mit diesem Herrn zu befassen.

Am Beginn der Geschichte war er gar nicht zu sehen. Allein sie, die Zeit, hatte das Monopol fortzuschreiten. Sie tat es lange, bevor es Menschen gab, und die Menschen wurden ganz allmählich in sie hineinversetzt. Sie lebten in ihr in den Kreisläufen, durch die sie sich kundtat (Tages- und Jahreszeiten, Altersstufen und Generationen). Dazu gehörte auch, daß die Lebensvorgänge unterschiedliche Geschwindigkeiten durchliefen: schneller am Beginn, langsamer zum Ende des Lebens hin und stillstehend im Tod. Dies aber nur für das einzelne Lebewesen, während die Summe der Lebensgeschwindigkeiten etwa gleichbleibend war.

Wenn sich das Denken der Zeit bemächtigt, entsteht eine grundsätzlich neue Situation. Dann kann der Wunsch aufkommen, Vorgänge zu beschleunigen oder sie zu verlangsamen. Es bleibt ein aufregendes und unterhaltsames Spiel, falls man es beenden und sich dem Strom der natürlichen Geschwindigkeiten wieder überlassen kann. Die Musik ist nichts anderes als ein Spiel mit der Zeit und hatte daher größte Bedeutung an der Wiege der Menschheit. Aus der Musik der verschiedenen Epochen und Völker läßt sich viel heraushören über ihr Verhältnis zum Leben und zum Tod; denn der Tod ist das Extrem dessen, was die Menschen geschehen lassen oder hinauszögern (gelegentlich auch beschleunigen) wollen. Jahrtausendelang stellte man sich dem Tod vor allem durch Aktivierung der Körperkräfte (Tanz, Magie, Heilpflanzen). Sehr, sehr allmählich kam etwas anderes hinzu: Es wurden Schutzvorrichtungen gebaut. Schwer zu sagen, wann das angefangen hat. Als feste Unterkünfte errichtet wurden, war alles schon im Gange. Die Absicherung gegen Gefahrliche Naturkräfte machte nach und nach die ursprünglich menschlichen Kräfte entbehrlich. Aber welcher Unterschied zwischen diesen Anfängen und dem Sicherheitswahn der mittelalterlichen Burgen und Städte! Und welcher Unterschied noch einmal zum heutigen Zustand, da man zwar Weltoffenheit behauptet (wie lächerlich waren doch die Stadtmauern, nicht wahr?), dabei aber jede Wohnung, jedes Dienstzimmer, jeder Schrank und jede Schublade einzeln abgeschlossen wird! Dieses nie zu befriedigende Sicherheitsbedürfnis, das immer mehr Leute ergreift (und auch solche Blüten treibt wie die Staatssicherheit), ist schon selbst wieder Ursache für den Drang geworden, ständig Neues zu erfinden und zu produzieren. Nun zwingen die selbstausgedachten Arbeitsvorgänge dem Körper und wiederum dem Denken den Rhythmus auf. Zeit, die ursprünglich - auch bei großer Anstrengung - Bestandteil des einen, unteilbaren Lebens war, wird abgetrennt und dem Kriterium der Nützlichkeit unterworfen. Jetzt wird sie auch gemessen, ein Vorgang, der frühen Menschen ganz sinnlos erschienen wäre. "Gott gab den Europäern die Uhr und den Afrikanern die Zeit." Dieses selbstbewußte Sprichwort aus Afrika enthält die Erfahrung, daß die mit der Uhr als gleich beurteilte Dauer höchst unterschiedlich erlebt, daß die psychologische Zeit also länger oder kürzer sein kann. Gelegentlich fällt das natürlich auch jedem Europäer auf, wird aber schnell wieder vergessen. In meiner musikalischen Arbeit dagegen bildet es eine Grunderfahrung, die in jedem Moment lebendig ist. Deshalb beanspruche ich, als Fachmann für Zeit gehört zu werden. Ich behaupte, daß die Einsparung gemessener Stunden, Minuten, Sekunden bein den verschiedenen Tätigkeiten gar keinen Gewinn an psychologischer Zeit bringt. Im Gegenteil, je öfter deren natürlicher Fluß gestört wird, um so weniger bleibt von ihr übrig. Außerdem nutzt man die Einsparung nur dazu, wieder neue Maschinen usw. zu bauen, die für den Menschen arbeiten und nun auch für ihn zu denken beginnen. Es wäre nicht so dramatisch, gäbe es einen Punkt der Zufriedenheit wie bei den ursprünglichen Lebensfunktionen, einen Punkt der Sättigung, der zum Innehalten einlädt und das Genießen von Wiederholungen ermöglicht. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Jedes Ziel wird im Moment des Erreichens für nichts erachtet; jede Technologie, kaum entwickelt, ist schon veraltet. Es scheint so, als arbeite die Menschheit geradezu für die Unzufriedenheit. Wäre es beim Essen ebenso, dann müßte jede Mahlzeit den Hunger verdoppeln, statt ihn zu stillen.

Erinnert sei an die Anekdote vom Erfinder des Schachspiels, der als Belohnung von seinem König für das 1. Feld ein Weizenkorn, für das 2. Feld zwei, für das 3. Feld vier Weizenkörner und weiterhin immer das Doppelte erbat bis zum 64. Feld. Der König, dem das ganz einfach schien, begann zu rechnen und mußte schließlich zugeben, daß so viele Weizenkörner im ganzen Reich nicht aufzutreiben wären. Damit wissen wir auch, wie der Fortschritt aussieht: ein Monstrum, das, anfangs kaum sichtbar, immer schneller dicker wird, bis es mit seiner Masse den ganzen Erdball erdrückt. Das Tückische dabei ist, daß sein Wachstum zunächst ganz normal anmutet. Lange Zeit war es tatsächlich noch vertretbar, d. h. mit dem Gleichgewicht der Natur im wesentlichen vereinbar und forderte darum niemanden zum Widerspruch heraus. Auch die Verdopplung der Weizenkörner von - sagen wir - acht auf sechzehn wird keiner als spektakulär empfinden, der nicht bedenkt, daß es bis zum 64. Feld so weitergehen soll. Zu einer Zeit, als das Aussteigen aus dieser Entwicklung vielleicht noch möglich war, schien es nicht nötig. Spätere Generationen fanden die ständige Vermehrung als etwas Selbstverständliches vor, empfanden es schließlich sogar als spannend, überallher die nötigen Weizenkörner aufzutreiben, und jetzt am Ende macht man sich eher darüber Gedanken, ob man noch auf dem Mars Weizen wird anbauen können, als über den Sinn dieser fortwährenden Verdopplung.

Selbst der Begriff des Wachstums, der ursprünglich an Lebewesen gebunden ist und die beschriebenen Kreisläufe einschließt (keine Beschleunigung, die nicht von einer Verlangsamung abgelöst wird; kein Wachstum ohne nachfolgendes Absterben) wird von dem Monstrum Fortschritt an sich gerissen und bekommt einen völlig anderen Inhalt. Von nun an beschreibt er das Wachsen gerade dessen, was nicht lebt. Dabei verflüchtigt sich eine konkrete Vorstellung vom Größerwerden oder gar vom Entfalten, und übrig bleibt die Bewunderung für ein gänzlich abstraktes Mehr-Werden von Dingen. Selten macht man sich klar, daß es um exponentielles Wachstum geht, womit die beschriebene ständige Verdopplung gemeint ist im Gegensatz zur einfachen Vermehrung um stets die gleiche Zahl (was 64 Weizenkörner auf dem 64. Feld ergäbe und damit die überschaubare Gesamtsumme von 2080 Körnern). Vielmehr herrscht großes Entsetzen, wenn der Produktionszuwachs einmal ein wenig langsamer wird, und man macht diesen winzigen Schritt zu normaleren Verhältnissen für die Misere verantwortlich, die in Wirklichkeit gerade Folge des sonst herrschenden ungebremsten Zuwachses ist. Daß nicht einmal die Arbeitslosigkeit durch ihn geringer wird, sondern sogar steigt, hat sich inzwischen herausgestellt.



Beobachtung 7

Im Herbst 1989, als zwar SED- und Staatsnähe, aber noch nicht Links-Sein ehrenrührig war, hatte auch die Gruppe "Vereinigte Linke" Chancen, wenigstens angehört zu werden. Da sie Ernst machen wollte mit einer Revolution von unten, schlug sie vor, neben den landwirtschaftlichen auch die Industriebetriebe in genossenschaftliche Selbstverwaltung zu nehmen. Bei einer Diskussion mit Arbeitern war bereits einer der westlichen Berater anwesend und hielt den Befürwortern eines Genossenschaftsmodells entgegen: "Ja, bitte schön, wenn Sie Selbstausbeutung betreiben wollen, um konkurrenzfähig zu bleiben..." Nein, sich selbst ausbeuten wollte niemand, auch die Linken erschraken bei dieser Vorstellung, womit ein weiteres Mal die Ahnungslosigkeit der DDR-Bürger ausgenutzt wurde (was auf sie noch zukommen sollte, muß ein westlicher Berater zumindest teilweise gewußt haben!) Einige Monate später klang es schon ganz anders. Als die landwirtschaftlichen Genossenschaften um ihr Bestehen kämpften, meinte ein westlicher Kommentator, daß es in der DDR gar keine Bauern gäbe, denn Bauer sei nur einer, der von früh bis spät für das Gedeihen seiner Wirtschaft sorge. Keine Selbstausbeutung? Und seitdem - die vielen Unternehmungen, sich selbständig zu machen, die über Bilanzen zugebrachten Nächte, die Umschulungskurse, die in Bewerbungsschreiben oder Steuererklärungen investierte Zeit, alles keine Selbstausbeutung? Und viel schlimmer noch, parallel zu all diesen Vorgängen lief unter dem Motto "Wohlstand braucht Arbeit. Arbeit braucht Zeit" eine dauerhafte Kampagne der Unternehmer, um die Arbeitszeit wieder zu verlängern und damit die Strategie der Gewerkschaft zu durchkreuzen, die durch den Einstieg in die 35-Stunden-Woche die Arbeitslosigkeit bekämpfen wollte. Nun ist die Überlegung, daß man denen, die keine Arbeit haben, welche verschaffen kann, indem man die Arbeitszeit der anderen verkürzt - und sie nicht etwa verlängert! - von der Art, daß ich mir ihre Vernünftigkeit auch durch gewundene Erklärungen nicht ausreden lasse. Sicherlich wird der Druck anderer Länder, in denen man länger arbeitet, auf die deutsche Wirtschaft immer stärker. Ist es aber wirklich zwingend, das mitzumachen, was allgemein vorangetrieben wird, selbst wenn man einsehen kann, daß es falsch ist, ja sogar ins Verderben führt? Ist es nicht vielmehr geboten, wenigstens den Versuch zu machen, aus dieser verhängnisvollen internationalen Entwicklung auszusteigen und Vorreiter in die andere Richtung zu werden? Internationalisierung der Konkurrenz, die schon im eigenen Lande schlimm genug ist, kann nicht nur zum Abbau des immer noch recht hohen Wohlstands der Arbeitenden führen, sondern vor allem zu einer allgemeinen Entsolidarisierung. Der Kampf um die 35-Stunden-Woche war einer, den die Arbeitenden noch für die Arbeitslosen mitzukämpfen bereit waren. Wird damit radikal Schluß gemacht, dann entsteht ein Klima, in dem jedes grundsätzliche Aufbegehren schon beinahe als lächerlich, als "uncool" (im Osten zusätzlich als nostalgisch) abqualifiziert wird. Selbsterziehung ist dann gesellschaftlich angesagt, und man braucht gar keine Spitzel mehr. So sicher ist dies allerdings nicht, denn ebenso wahrscheinlich ist das Umkippen ins totale Chaos: Wenn niemand mehr aufbegehrt, fühlt sich auch niemand mehr verantwortlich. So oder so, ein Konzept kann nicht aufgehen, bei dem die Zeit-Kalkulationen der Industrie darüber entscheiden, wie die Menschen ihre Lebenszeit gestalten. Es muß umgekehrt sein, und wenn das in diesem System nicht zu haben ist, darf über ein anderes wenigstens nachgedacht werden. (Anmerkung zur Verfassungstreue: Noch ist im Grundgesetz kein Wirtschaftssystem festgeschrieben!)*

* Notwendiger Hinweis im Jahre 2004: Die EU-Verfassung enthält die Verpflichtung zur Marktwirtschaft.



Das eigentliche Zeitproblem: der Fortschritt (2)

"Keine Tabus!" ist oft eine gestellte Forderung, wenn über die Zukunft gesprochen wird. Ausgerechnet die Frage aber, ob es in der Vergangenheit vielleicht schon einmal Gesellschaften gab, welche die Menschen alles in allem glücklicher machten, ist mit dem strengsten Tabu belegt. Wer es wagt, diese Frage nicht scherzend-resignativ, sondern ernsthaft zu stellen, muß mit erbittertem Widerstand von allen Seiten rechnen. Nur um diese gefährliche Überlegung vom Tisch zu bekommen, verbünden sich die ansonsten schärfsten Gegner mit Argumenten, die gar nicht primitiv genug sein können (wie Beobachtung 10 noch zeigen wird). Jede Generation wird darüber belehrt, daß der von ihr vorgefundene Zustand im wesentlichen normal sei, während die Vergangenheit in der Tendenz abwertend dargestellt wird. Es entsteht eben das Bild des Fortschritts, der von allen bestaunt werden kann, während man wenig oder nichts von dem erfährt, was verlorengeht. Manchmal dämmert eine Ahnung auf: bei der Erinnerung an fast untergegangene Völker (Indianer, "Zigeuner") oder bei den vielfältigen Erzählungen über Hexen und Zauberer, die man aber auch nur Kindern mit dem Schein der Ernsthaftigkeit darbietet (nicht zufällig, denn sie führen auch in die Kindheit der Menschheit zurück), während Erwachsene unter sich lieber zu erkennen geben, daß man daran nicht wirklich glaubt. Die christliche Kirche hat sich einen einzigen der vielen mit besonderen Kräften begabten Menschen herausgesucht und ist entschlossen, ausschließlich an ihn zu glauben. Dabei kann es gar keinem Zweifel unterliegen, daß es zu allen Zeiten Menschen gegeben hat, deren körperliche und geistige Kräfte über das heute als üblich Geltende hinausgingen. Mit dieser etwas gewundenen Formulierung soll der Vorstellung vorgebeugt werden, es handele sich um übernatürliche Fähigkeiten. Mit etwas Energie kann fast jeder in sich selbst solche Kräfte entdecken (beispielsweise durch Yoga, aber auch durch intensives Musizieren), und wenn er ihre als bescheiden empfundene Stärke sozusagen hochrechnet auf bessere Ausgangszustände und längere Zeiträume, dann kann er sich vorstellen, daß es einmal normal war, sie in weit größerem Maße zu besitzen. Man muß sich klarmachen, daß vieles von dem, was heute als Yoga geübt wird, in früheren Zeiten zum alltäglichen Leben gehörte.

Menschen, die in freier Natur leben, trainieren ihren Körper besser als Leute, die ihre Tage in der Stube, auf Sitzungen, jetzt gar hinter dem Computer verbringen. Von diesem körperlichen Training wird aber nicht nur das berührt, was man (fälschlich!) von geistiger Tätigkeit getrennt betrachtet (nach dem zweifelhaften Motto: "Der eine kann eben besser laufen, und der andere kann besser denken"), sondern die Verbindung wird trainiert zwischen körperlicher und geistiger Tätigkeit. Man stelle sich vor, in welchem Maße im Freien alle Sinne geschärft werden, die sämtlich lebenswichtige Signale empfangen! Man fühle mit, in welchem Maße sich der Körper im Freien vor allem auf unterschiedliche Temperaturen (hochinteressant sind die spielerischen Übungen der Inuit (Eskimos), bei denen Singen - und Lachen! - für die Erwärmung eingesetzt wird), aber auch auf andere Klimaveränderungen einstellen muß. Man überlege, daß die Durchblutung, die dabei in höchstem Maße angeregt wird, auch für das Gehirn entscheidend ist, und vergleiche die dadurch gegebenen Möglichkeiten mit den heute schon als fast normal angesehenen Durchblutungsstörungen, die auch zu geistigen Minderleistungen führen. Nein, nicht einmal das Gehirn, auf das der heutige Mensch so stolz ist, läßt sich als Aktivposten gegenüber früheren Zeiten ins Feld führen! So darf man vermuten, daß menschliche Kräfte, die heute als Ausnahme erlebt werden, in ferner Vergangenheit jedem oder nahezu jedem zur Verfügung standen. Der Hexenwahn des Mittelalters hatte genau damit zu tun, daß man sich von solchen Kräften bedroht fühlte, als die Entfernung von der Natur allmählich größer wurde. Da fast jede Frau sie wenigstens teilweise noch besaß, konnte (oder mußte) man fast jede Frau zur Hexe erklären. Es hat bekanntlich Jahrhunderte gedauert, bis man die letzte Hexe - und damit auch das beste Teil der Menschheit, die Fleischeslust - totgeschlagen hatte. Auf der Asche der Scheiterhaufen führt unsere Gesellschaft ihr gereinigtes, versichertes, eingeschränktes Leben. So muß eine Komplementärgeschichte zu der allgegenwärtigen Geschichte des Fortschritts geschrieben werden, eine Geschichte des Schwindens menschlicher Urkräfte. Diese waren ursprünglich auch zum Schutz des einzelnen Menschen da, aber nicht nur zu dessen Überleben, sondern auch zum Überleben der Art, damit also für Sexualität, Lust, Freude. Inzwischen wird selbst die Be-Lustigung, fast das letzte, was die Menschen noch ohne Hilfe tun mußten, ihnen durch eine Sex-Industrie mehr und mehr abgenommen.

Wer sich wie ich noch bestens an die Auftritte der großen afrikanischen National-Ballette erinnert, bei denen Musizieren, Tanzen, selbstverständlich-offene Darbietung der Körper, Ekstase und Freundlichkeit eine be-geisternde (was bedeutet: höchste geistige Kräfte ausstrahlende) Einheit bildeten; wer wie ich die allmähliche Kommerzialisierung und Schwächung dieser (gemessen an anderen noch immer hervorragenden) Vorführungen miterlebt hat und nun die mühevollen Animationsversuche der Freizeitindustrie beobachtet, der stellt sich die Frage: Entspricht dem sprunghaften Wirtschafts-Wachstum ein ebenso schnelles Schwinden der Lust? Wer wie ich wenigstens aus der Ferne und durch Bekannte das Aufbegehren der 68er-Generation verfolgte (auch die dazu gehörende Musik gut fühlte und verstand), nun aber erlebt, wie statt eines Ausbruchs der Lust ein Ausbruch der Gewalt erfolgt, daneben müde Resignation Platz greift, der fragt sich erst recht: Entspricht dem exponentiellen Wachstum der Industrie etwa ein exponentielles Schwinden der Lust? Noch weiter, da es um das Problem der Zeit geht: Zeit ist zwar nicht Geld (dies ist vielmehr eins der dümmsten und verhängnisvollsten Sprichwörter), aber Zeit ist Lust! Es gibt Menschen, die für etwas, das andere in Stunden erledigen, ganze Tage brauchen (oder es nie schaffen). Man wird feststellen, daß diese auch in ihrer Lust gehemmt sind, daß dagegen lustbetonten Menschen vieles schnell und leicht von der Hand geht. An mir selbst habe ich festgestellt, wie sehr alles Folgende miteinander verbunden ist: größere Beweglichkeit des Körpers, umfassenderer Gebrauch der Sinne, Erotik (nicht zufällig "Sinnlichkeit" genannt), ekstatisches Musizieren, Beschleunigung der Lebensvorgänge. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß ich mit meinem eigenen Körper das erreichen kann, was andere von den Wundern der Technik erwarten: Geschwindigkeit. Je mehr Blockierungen in meinem Körper ich gelockert habe, um so schneller kann ich mich auch innerlich bewegen, Ich denke schneller, fühle schneller, entscheide schneller. Die Frage ist nun: Kann man beides haben, die Beschleunigung der Lebensvorgänge und die technische Beschleunigung? Für die Antwort muß klar sein, wie der Stau entsteht, der gewissermaßen Zeit im Körper anhält. Aber das hat sich ja schon herausgestellt: Die Entfernung von der Natur, die übersteigerte Absicherung gegen Gefahr und Tod, im weitesten Sinne die technische Entwicklung hat die Blockierungen herbeigeführt, und man kann nicht gut einen Zustand überwinden wollen und zugleich seine Ursache als Errungenschaft preisen. Es ist kein Vorbeikommen an der schmerzlichen Erkenntnis, daß auch zur Geschichte der durch die Technik gewonnenen Zeit eine Komplementärgeschichte geschrieben werden muß, die Geschichte der aus Körpern und Seelen gestohlenen Zeit. Was sich außerhalb der Menschen beschleunigt hat, hat sich in ihnen verlangsamt. Es hat, wenn man so will, eine "Enteignung" von Zeit stattgefunden, und sie findet noch immer statt.



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