Gefühl - Musik -
Zeit - Vergessen
Von Hermann
Keller 1990
Gefühl
Kaum eine
Redewendung habe ich in den letzten Monaten häufiger gehört als
die, man müsse nun „ohne Emotionen“ dies oder jenes diskutieren,
in Angriff nehmen usw. Die ist zwar schlicht Unsinn, denn so etwas
könnte nur ein Polit-Computer oder ein Betriebsführungs-Computer
leisten, während ein Mensch seinen Gefühlen unterworfen bleibt,
auch wenn er sie zu unterdrücken, klein zu halten, mittels einen
Begriffes wie „Emotionen“ abzuwerten sucht. Eine solche
Unterdrückung allerdings hat gerade in unserem Volk seit
Jahrhunderten (und nicht etwa nur seit 40 oder 57 Jahren)
stattgefunden und immer wieder zu wahnhaften Explosionen (etwa zu
Hexenverfolgungen oder zu rassistischen Exzessen)geführt, zu
Revolutionen natürlich ebenfalls, leider jedoch mehrfach zu einer
Vemischung von beidem.
Musik
„Wo aber Gefahr
ist, wächst das Rettende auch“ (1), wenngleich es bisher stets um
mindestens einen halben Schritt zu spätgekommen ist. Musik
(zumindest dann, wenn sie zum Klingen gebracht wird) verlangt ein
Gefühl für Kopf und Körper zugleich. Sie ist daher immer ein
notwendiges Korrektiv zu massenhafter Gefühlsverdrängung gewesen;
je stärker diese war, um so unentbehrlicher die Musik, obwohl
keineswegs von allen begrüßt oder gar praktiziert. So ist es den
herrschenden Gefühlsunterdrückern denn auch stets gelungen, die
„gängige“ Musik auf ein kleines Maß zu bringen, vom
Gemeindegesang bis zur Rasiermusik. Im schlimmsten Falle gehen bei
Massenveranstaltungen auf der Westberliner Waldbühne (2) oder woanders
einmal ein paar Einrichtungsgegenstände zu Bruch; da müssen dann
die „entfesselten Emotionen" (oder was ein rechter
Ordnungshüter dafür hält) schnell wieder unter Kontrolle gebracht
werden. Sonst könnten ja die Gefühle sich wirkliche Auswege suchen!
Zeit (1)
Zum Beispiel
könnten die Menschen entdecken, daß von der Krippe bis zur Bahre
immer schon jemand da ist, der über ihre Zeit verfügt. Sie könnten
sich fragen, ob Streß Freiheit bedeuten kann, oder ob Freiheit nicht
vielmehr Freizeit braucht, frei verfügbare, selbstbestimmte Zeit.
Allerdings würden sie dann kürzer arbeiten wollen und -
schreckliche Vorstellung – weniger Waren , weniger Schadstoffe und
weniger Müll produzieren. Dies darf keinesfalls geschehen; mit
unerbittlicherLogik werden die „Sachzwänge“ geltend gemacht:
Wohlstand braucht Arbeit. Arbeit braucht Zeit. Und wer wagt es schon,
gegen den Wohlstand zu sprechen?
Ich.
Zugegeben, das ist ein überraschender Wechsel der Perspektive, ganz
unerlaubt scheinbar, da wir uns daran gewöhnt haben, daß es für
alle Themen Fachleute gibt. Da aber über ein so kompliziertes Ding
wie das Geld jedermann abstimmen durfte (oder dies jedenfalls zu tun
glaubte), gestatte ich mir, über eine so einfache Existenzform wie
die Zeit etwas mehr als nur „Ja“ zu sagen, denn:
Musik und Zeit
Wer Musiker ist,
ist Fachmann (3) für Zeit. Keine andere Kunst ist so intensiv, weil
vorrangig bis ausschließlich mit der Gestaltung von Zeit als
erlebter Dauer befaßt. Wer Musiker ist, spürt besonders deutlich,
daß ein bestimmter Anfang Konsequenzen hat, daß ein bestimmtes Ende
nicht ohne Entwicklung zu erreichen ist, daß aus einem Ganzen nicht
willkürlich Teile herauszulösen sind, und dies nicht nur wegen
einer Logik musikalischer „Gedanken“, sondern mehr noch darum,
weil die Entstehung von Gefühlen Zeit benötigt, gestaltete Zeit!
Ein Stück Musik ist ein Kontinuum, das gleichwohl sehr
Unterschiedliches miteinander verbinden und auch simultan hörbar
machen kann. Musik läßt deutlich erleben, daß es nicht nur das
eine oder das andere gibt, etwa das Dunkle oder Helle (gar das Gute
oder Böse), sondern ein Nebeneinander-Bestehen und ein
Auseinander-Hervorgehen von Anstauen und Entladen, von Auflodern und
Verlöschen, von Ausweiten und Verdichten, wodurch beispielsweise
eine Minute sehr lang oder sehr kurz erscheinen kann.
Zeit (2)
Zeit ist also
nichts, was sich mechanisch abhaspelt, sondern etwas sehr
verschiedenartig Erlebbares. Ich glaube, die Kindheit (auch die
Kindheit der Menschheit) erscheint ungetrübter als spätere
Lebensabschnitte, weil in das Strömen von Lebenszeit noch weniger
von außen eingegriffen wird (wurde). Das wäre ein Grund für
Versuche, der Kinderwelt (und auch der sogenannten dritten Welt, die
eigentlich die erste Welt ist, die „Wiege der Menschheit“) einen
Modellcharakter für die Erwachsenenwelt einzuräumen; statt dessen
geschieht beinahe ausschließlich das Umgekehrte. Die Mächtigen
strukturieren die Lebenszeit der Machtlosen und zwingen sie (damit
natürlich auch sich selbst), diese Strukturen zu verinnerlichen.
Anschließend - niemals vorher -findet eine Befragung statt. So sind
die besten Lose immer bereits aus dem Wahl-Topf herausgenommen. Was
von den meisten eigentlich nicht gewünscht war, erscheint dann als
das einzig Realistische. Die frühen Lebensphasen werden nachträglich
abgewertet, bestenfalls verniedlicht - oder einfach aus dem
Bewußtsein gedrängt.
Gefühl und Zeit
„Zeit ist
Geld“, eins der schlechtesten und verhängnisvollsten Sprichwörter.
Natürlich haben die Geldleute Interesse daran, daß keiner den
Quatsch durchschaut; sonst würden am Ende gar sie selber arbeitslos!
Gefühl, Musik,
Zeit, alles Luxus! Leute, die sich damit beschäftigen, alles
Spinner! Wer behauptet da, daß man sich für richtiges Geld keine
Gefühle kaufen kann?
Nur wenige
noch, wie es scheint. „Wenn das Geld im Kasten klingt, die Seele in
den Himmel springt.“ (4) Keiner möchte gern als naiv gelten,
Minderheit in der Minderheit sein, vielleicht dafür ans Kreuz
genagelt werden, daß er Wechsler aus dem Tempel vertrieb. Und
außerdem ist ja für alle diese Diskussionen gar keine Zeit! Keine
Zeit, über Zeit zu reden (nur Zeit,über Geld zu reden)!
Fachleute für
Parteipolitik und Fachleute für Weltmarktwirtschaft haben sich
längst aller Probleme bemächtigt, für die sie nicht kompetent sein
können, weil sie die Lebensvorgänge aus ganz begrenzten Aspekten
heraus betrachten, welche die tiefsten Grundlagen der menschlichen
Existenz gar nicht betreffen. Darum auch: „ohne Emotionen“.
Leider können gerade emotionsarme Leute die arglos geäußerten
Gefühle anderer perfekt für ihre Zwecke einsetzen. Wenn die
Menschheit in den Abgrund geführt werden, ihre Zeit im Nichts enden
sollte, dann vor allem aus diesem Grunde.
Vergessen
Sigmund Freud
erzählte in seinen Vorlesungen über Fehlleistungen die bestürzende
Geschichte einer jungen Dame, die zu ihrer Freundin sagte: „Schau,
dort drüben kommt Herr X. !“ Sie hatte „vergessen“, daß sie
mit ihm seit geraumer Zeit verlobt war. Dies war ein Fall für den
Psychoanalytiker, doch fühle ich mich häufig an ihn erinnert. Der
Politiker Y sagte: „Ja Ja Nein“. Er hatte „vergessen“, daß
er vor einer Woche „Nein Nein Ja“ gesagt hatte. Der Bürger B
verlangte vom Bürger C ein . . . zurück, welches dieser ihm vor 30
Jahren weggenommen haben soll. Er hatte „vergessen“, daß er
selbst vor 30 Jahren + 1 Tag dem Bürger A (oder vielleicht gar dem
Bürger C) ein . . . weggenommen hatte.
Man machte es
sich leicht, wollte man solches Vorgehen immer als schlau,
berechnend, intrigant beurteilen. In einem bestimmten Moment kann
jeder nur ein bestimmtes Erinnerungspotential aktivieren, und warum
sollten dies gerade die Erinnerungen sein, welche den Menschen
unfähig machen, seinen Vorteil zu sichern? Ein gewisses Maß von
Amnesie muß man ehrlicherweise bei sich selbst feststellen und es
daher auch anderen zubilligen. Gefährlich ist ihre Ausweitung und
der Umkehrmechanismus, der zumeist mit ihr einhergeht: Was ich selber
nicht erinnern will, getan zu haben, das muß ein anderer gewesen
sein! Bestimmt wird der Politiker Y nun dem Politiker Z vorwerfen,
daß dieser innerhalb einer Woche seine Meinung geändert habe. So
wird die Vergangenheit schließlich ein Selbstbedienungs- laden, aus
dem sich jeder das bißchen herausholt, welches er gerade braucht,
effektvoll vergrößern und nötigenfalls umdrehen kann. Vieles und
sich selbst zu vergessen, das wird belohnt - eine verhängnisvolle
Auslese. Am Ende mutet die Fehlleistung von Freuds junger Frau recht
harmlos und beinahe „normal“ an, hat sich doch nur ihr
Unterbewußtsein gegen eine ungewollte Verlobung gewehrt.
Vergessen und
Gefühl
Es waren die
abgewehrten Gefühle, die das Loch in ihre Erinnerung rissen. ln
weniger krasser Form hat jeder schon so etwas erlebt. Gerade das
Unangenehme ist es, das uns nicht einfällt; aber keineswegs so, daß
wir etwa sehr intensiv erlebten Schmerz vergessen würden. Vielmehr
vergessen wir die Zeiten, in denen wir uns ihm nicht gestellt, ihn
weggedrängt oder in anderer Weise versagt haben.
Vergessen und
Zeit
Das wäre nicht
schlimm, wenn es sich auf Ausnahmesituationen beschränkte. Es
leuchtet jedoch ein, daß davon längst keine Rede mehr sein kann.
Die Dichte der Ereignisse, die zu verarbeiten sind, hat stets
zugenommen und nimmt immer weiter zu. Vieles soll sogar vorsätzlich
sachlich, nüchtern, „cool“ angegangen werden; diese Haltung
greift von der Arbeitswelt ins Privatleben über. Schließlich wird
hastiges, eiliges Leben geradezu zum Bedürfnis: Wer sich viele
Sachzwänge setzt, der braucht sich seinen Erinnerungen nicht zu
stellen. Damit wird das Leben in einzelne Handlungen zerteilt, die
bestimmten Zwecken (Zielen) dienen , für sich selbst aber nichts
sind, Un-Zeit. Als Summe solcher Un-Zeiten erscheint der Rückblick
auf das Leben. Wird ein Ziel nicht erreicht, entsteht der Eindruck,
umsonst gelebt zu haben.
Vergessen, Gefühl
und Zeit
Wenn ein Führer
einer Gruppe den falschen Weg gewiesen hat, dann ist die auf ihn
konzentrierte Wut völlig verständlich; sie speist sich aus dem
Gefühlspotential, das in Stunden oder in Tagen entstehen kann. Auf
Jahre oder Jahrzehnte läßt sich dieses Modell nicht übertragen, es
sei denn in dem Sinne, daß sehr viele solcher Vorgänge ohne die
entsprechende Entladung stattgefunden haben. Die aber kann nicht
einfach nachgeholt werden, indem ein Aggressions-Bündel geschnürt
und auf einen Gegner geschleudert wird.
Wahl-Kampf,
nun weiß ich, was das ist: das Alibi für jedermann, die Löcher in
der eigenen Vergangenheit auch weiterhin nicht aufzusuchen.
Damit bleiben die
Ausgangspunkte des Weges erst recht im Dunkel; vierzig gelebte Jahre
werden dargestellt als eine einzige Wanderung vom Nichts ins Nichts.
Und was soll heraushelfen? Wieder ein Zeitaufschub, ein Leben auf ein
neues Ziel hin, das unter der Hand schon längst das alte war: viele
Waren produzieren, Besitz ansammeln, Zeit totschlagen. Das neue
Nichts ist vorprogrammiert für alle, die dem Wohlstand
hinterherlaufen, ob sie ihn nun erreichen oder nicht. Wo Zeit fehlt,
Gefühl fehlt, Erinnerung fehlt, entsteht auf die Dauer Krankheit. Es
bedarf gar nicht der äußeren (ökologischen) Katastrophe; auch von
innen her schränkt sich Gesundheit ein.
Eine absurde
Behauptung, daß „die Menschen das wollen“. Es gab stets genug
Leute, die Macht hatten, ihnen zu sagen, was sie wollen sollen und
was sie unter keinen Umständen wollen dürfen. Der Bruch zwischen
Vergangenheit und Zukunft ist weniger scharf, als es scheinen mag.
„Sozialismus als Leistungsgesellschat“ war die Parole, nun heißt
sie: „Freiheit ist Leistung". (Ich bestehe auf: Freiheit
braucht Freizeit.) Wie oft wurde uns Künstlern gesagt: „Keine
Experimental" Nun heißt es folgerichtig: „Keine
sozialistischen Experimente! “ (Ich bestehe auf: Keine sozialen,
keine militärischen, keine genetischen Experimente!)
Gefühl, Zeit und
Musik
Ich habe
absichtlich das schamhaft weggesteckte Wort Gefühl arg strapaziert.
Es soll deutlich gesagt sein, daß ich darunter nicht den mühsamen
Versuch verstehe, durch Weinerlichkeit oder durch Gewalt ein
Tröpfchen von demselben auszupressen (aus sich selbst oder aus
anderen). Nicht alter und neuer Kitsch, auch nicht alte Marschmusik
und neue militante Popmusik haben für mich etwas mit Gefühl zu tun.
Ich meine damit ein möglichst vielfältiges Bewußtsein von
Geist und Körper, Körper und Geist, das sich in der Tätigkeit
des Musizierens realisiert und von Hörenden „aufgefangen“ wird.
Musik kann helfen, die Vielfalt in sich selbst und in anderen zu
finden, wenn diese nicht in der übrigen Lebenszeit wieder abgetötet
wird.
Vergessen, Zeit
und Musik
Man mag es
ablehnen, die berühmte Geschichte zu glauben, der junge Mozart habe
Allegris neunstimmiges Miserere aus dem Gedächtnis aufgeschrieben.
Ich halte sie für wahrscheinlich. Was als Kontinuum erlebt wird,
kann in der Erinnerung als solches wieder erscheinen, wenn - für
mich - ein Teil aus dem anderen hervorgeht, wenn also letztlich ich
selbst dieses Kontinuum bilde. Je weniger ich mich gegen das Strömen
der Zeit wehre, um so weniger Erinnerungslöcher reiße ich in sie
hinein. Musik bietet die Möglichkeit, das zu üben. Sie kann so
etwas sein wie eine Schutz-Zeit gegen das Vergessen.
Die Zeit in sich
selbst widerstandslos erleben heißt nicht, den „Zeitgeist“
widerstandslos hinnehmen, eher das Gegenteil. Auch weiterhin werden
meiner Musik genügend Brüche und Schocks schon von außen her
aufgeprägt werden, die zu glätten, in Wohlklang (Wohlstands-Klang)
aufzulösen, auch wieder nur Vergessen bedeuten und befördern müßte.
Zum Abschluß
Da nun
schnellstens alles Bundesdeutsche nachgeholt wird, haben auch wir
einen Goebbels-Vergleich. Sicher wird Konsens erzielt werden, daß
der „etwas zu weit geht“. Ich meine im Gegenteil: nicht weit
genug, denn auch bei ihm ist einiges „vergessen“. Goebbels hat
sich eben nicht entschuldigt, weder beim deutschen noch beim
jüdischen noch beim russischen . . . Volk. Auch viele andere haben
das nie getan, obwohl sie weitaus länger gelebt haben. (5) Es wäre auch
schwierig gewesen, da das Dritte Reich mit einem Krieg zu Ende ging
(und ohne ein Kriegsziel gar nicht hätte beginnen können):
Millionen Menschen hätten die Entschuldigung nicht mehr hören
können. Sie konnten auch niemanden mehr anklagen; das ist der
schreckliche Vorteil eines Krieges für das Gewissen der Nachwelt.
Die DDR ist nach
einem Krieg entstanden, und sie hat keinen geführt (höchstens eine
Art Wirtschaftskrieg, den sie verlieren mußte). Die Friedenszeit ist
bereits länger als die zwischen 1871 und 1914! Es wird wohl eines
der größten Probleme der Zukunft werden, die gesellschaftlichen
Spannungen ohne Krieg zu lösen. Der „Schlagabtausch mit
Argumenten“ wird wenig dazu beitragen, wenn nur noch Worte geäußert
werden, nicht aber Verzweiflung, Trauer oder Freude.
Anmerkungen
2 Ich erinnere
mich der ehrlichen, aber leider eben von törichten Geistern
artikulierten Empörung anläßlich der Vorgänge bei einem
Rock-Konzert, mit der Versicherung verbunden: Bei uns wäre so etwas
nicht möglich.
3 Mir entgeht
keineswegs die männliche Bestimmtheit dieser Aussage; aber ich mag
nicht den Versuch, sie durch eine bloße Sprachregelung zu
bereinigen. Am ebenen gefiele mir der allgemeinere Satz: Wer
musiziert, vertieft sein Menschsein.
4 Ablaßhändler
Tetzel, den Luther offensichtlich nicht kleingekriegt hat
5 Wenn ich nur
einmal an den so sehr liberalen Moderator des jahrzehntelang
meinungsbildenden „Internationalen Frühschoppens“ denke.
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