Der Text »Mit dem
Sozialismus vor dem Abgrund - Jetzt einen Schritt weiter« erschien
in einmaliger Auflage 2005 bei der »brevis musikoffizin«.
Er wurde nach dem
Manuskript von Hermann Keller von Steffen Schellhase gesetzt und
grafisch gestaltet und ist auf Anfrage als gedrucktes Exemplar
lieferbar. Bei Interesse wenden Sie sich bitte
an: scriptorium@brevis-musikoffizin.de Mit dem Sozialismus vor dem Abgrund – Jetzt einen Schritt weiter
Teil 2
Inhalt
Angelus Novus Paul Klee, 1920 Aquarellierte Zeichnung, 31,8 cm × 24,2 cm Israel-Museum, Jerusalem |
Beobachtung 2
Beobachtung 3
Beobachtung 4
Zeitproblem 1
Zeitproblem 2
Beobachtung 5
Beobachtung 6
Zeitproblem 3
Das eigentliche Zeitproblem: der Fortschritt (1)
Beobachtung 7
Das eigentliche Zeitproblem: der Fortschritt (2)
Beobachtung 8
Das eigentliche Zeitproblem: der Fortschritt (3)
Beobachtung 9
Beobachtung 10
Sozialismus und Fortschritt
Eigentum und Fortschritt
Demokratie und Fortschritt (1)
Beobachtung 11
Demokratie und Fortschritt (2)
Beobachtung 12
Ein weiteres Zeitproblem: der Konjunktiv
Das eigentliche Zeitproblem: der Fortschritt (4)
Sparen und Fortschritt (1)
Beobachtung 13
Musik und Fortschritt
Sparen und Fortschritt (2)
Das antiökonomische Manifest
Beobachtung 8
Auch ich kann unterscheiden zwischen dem, was wünschenswert, und dem, was realistisch ist. Nur muß man den Realismus konsequent zu Ende denken, ohne kurz vor Schluß doch wieder ein Wunschbild einzuschieben. Von dieser inkonsequenten Art war nämlich das realpolitische Gehabe der Wende-Zeit (im Folgenden ohne die eigentlich notwendigen Anführungsstriche). Im Namen des Realismus wurden die Westdeutschen zu Hilfe gerufen - in der Hoffnung, sie würden ihre Grundstücke nicht zurückfordern; dem Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" wurde zugestimmt - in der Hoffnung, es werde einen selbst nicht treffen. Die "Marktwirtschaft" wurde für einzig realistisch erklärt - in der Hoffnung, sie werde sozial sein. Eine radikale Senkung des Welt-Energieverbrauches könnte wiederum nicht für unrealistisch erklärt werden, gäbe es nicht Wunschvorstellungen wie: Es werden sich schon immer noch genügend Energieträger finden; oder es werden neue entdeckt; oder neue Technologien; oder neue Arzneimittel werden entwickelt, die die Schadstoffe erträglicher machen; oder resistente Menschen werden gezüchtet; oder "ich jedenfalls werde noch mit heiler Haut davonkommen...." Die letzte Erklärung ist immer noch die ehrlichste und die dazugehörige Lebenshaltung wahrscheinlich die aussichtsreichste. Sterben muß schließlich jeder einmal, und vorher will man doch wenigstens richtig gelebt haben! Ich stimme dem grundsätzlich zu. Man kann von niemandem verlangen, daß er einer Idee zuliebe schlechter lebt, als er leben müßte - was dann allerdings auch den DDR-Bürgern nicht nachträglich abgefordert werden darf.
Das eigentliche Zeitproblem: der Fortschritt (3)
Problematisch wird bei solcher Einstellung freilich der Generationen-Vertrag. Was ist das? Eine der vielen Wortschöpfungen, die der Neu-Bundesbürger kennenzulernen hat. Wenn ein Vertrag geschlossen werden muß, ist das ein Hinweis darauf, daß die Sache auf andere Weise nicht mehr funktioniert. Daraus folgt zumeist, daß über kurz oder lang auch der Vertrag unterlaufen oder gar nicht mehr eingehalten wird. Die Ablösung der einen Generation durch die andere ist ursprünglich ein natürlicher Vorgang, der einschließt, daß alle Generationen, die am Leben sind, auch miteinander leben. Dazu gehört ein Kreislauf, der nach der eigenen Jugend normalerweise auch noch die Jugend der Kinder und Enkelkinder einschließt. An den Erlebnissen der folgenden Generationen teilhaben zu können, setzt aber voraus, daß deren Interessen und Gefühle verständlich bleiben und andererseits die eigenen Erfahrungen nicht wertlos werden. Es setzt also voraus, daß die Veränderung der Lebensumstände nicht zu groß wird; es setzt voraus, was bei exponentiellem Wachstum nicht mehr zu haben ist. Der Fortschritt selbst treibt die Generationen auseinander.
Das begann schon, als die "sicheren" Städte in die bis dahin einheitliche Landschaft hineingesetzt wurden. Seitdem hat das Streben, dem Landleben zu entkommen, nie aufgehört und zu massenhafter räumlicher Trennung der Familien geführt. Die Einstellung zum Dorf mußte widersprüchlich bleiben, da man es einerseits für "rückständig" erklärte, andererseits aber wußte (und in Notzeiten auch zu spüren bekam), daß die Lebensgrundlagen hier zu finden waren und nicht in der Stadt. Die Landflüchtigen schämten sich ihrer altmodischen dörflichen Angehörigen, ohne selbst tragfähige Lebensformen aufbauen zu können. Statt dessen nahm die Vereinzelung zu, was seinen Ausdruck auch in immer kälteren Erziehungsformen fand. Naturferne (In August Strindbergs kleinem Roman "Die Insel der Seligen" wird gezeigt, wie allein das Leben in festen Häusern die Offenheit ländlicher Lebensformen zerstört.), frühzeitige Vorbereitung auf Amt und Beruf, Disziplinierung war für die Kinder vorgesehen. Eine innere Entfremdung von den Eltern (die Großfamilie war ohnehin kaum noch existent) wurde in Kauf genommen zugunsten einer besseren Verwendbarkeit der Zöglinge für die bürgerliche Gesellschaft. Die "schwarze Pädagogik" (So nennt Alice Miller eine Reihe von rigiden Erziehungsmethoden, die um 1900 propagiert und natürlich praktiziert wurden.) hat jede Generation zur Zuchtmeisterin für die nächste werden lassen und damit eine allgemeine Angst der Jüngeren vor den Älteren etabliert. Wenn es dennoch ein Aufbegehren der Jüngeren gab, dann fast immer in dem Sinne, daß ihnen die Älteren zu langsam waren beim Vorwärtsschreiten. Die Jugend setzte dann einen weiteren Fortschrittsschub in Gang und erfüllte in scheinbarem Gegensatz zu den Vätern doch deren Erziehungsauftrag.
Wie konnte es auch anders sein? Da der Mensch eine soziale Frühgeburt ist, das heißt schon von Natur aus eine extrem lange Zeit bis zur vollständigen Reife durchlebt, braucht er auf viele Jahre hinaus direkte Hilfe und noch länger die Erfahrungen der Eltern, Großeltern usw. Ich will das Anleitung nennen (während Er-Ziehung geradezu bildhaft vor Augen führt, was keinesfalls geschehen sollte). Der Fortschritt bringt es aber mit sich, daß die Menge des zu Lernenden dauernd anwächst. So greift einerseits das Spezialistentum Platz, andererseits stellt der einzelne zu seiner Zeit, da er biologisch längst "fertig" ist, sozial sozusagen ein Nichts dar und muß sich immer weiter beschulen lassen oder gar dem finstersten Drill unterwerfen (so wurde der Nutzen der Armee für die Er-Ziehung i. a. sehr hoch veranschlagt). Hat er endlich einen selbständigen Platz in der Gesellschaft errungen, dann ist er biologisch längst gealtert und hat seine besten Jahre hinter sich. Die nächste Generation wird unter seiner Führung nicht viel zu lachen haben, letztlich aber gleichfalls akzeptieren, daß es eben so (oder vielleicht noch ein bißchen schneller und stressiger) sein muß.
Zum System gehörte aber bisher, daß ein Mensch in jungen Jahren Gelerntes wenigstens noch in seinem eigenen Leben anwenden und weitergeben konnte. Wenn die Intervalle des Veraltens mühsam erworbener Fähigkeiten noch kürzer werden, kippt das ganze Erzie-hungsgebäude um. Was da vielen DDR-Bürgern von einem Tag auf den anderen geschah, war zwar außergewöhnlich durch die besonderen Umstände der Wende-Zeit, aber nur ein kleiner Vorgeschmack auf noch zu Erwartendes. Wenn "Innovation" wie ein Zauberwort umgeht, muß immer schneller und öfter Neues gelernt werden, das noch schneller und öfter wertlos wird. Leicht vergängliches Wissen und Können ist bei Gleichaltrigen und Jüngeren ebenso gut wie bei älteren zu holen, sogar bequemer, da letztere oft aus guten Gründen darauf bestehen, tiefere Erfahrungen zu vermitteln. Es entsteht ein Klima, in dem flüchtiges Lernen ebenso wie flüchtiges Lehren (Kurse! ein weiteres Zauberwort) belohnt wird, während die Umwege gründlichen Lernens einfach zu lange dauern. Jeder ältere Mensch ist in Gefahr, sich der Lächerlichkeit preiszugeben, wenn er von früheren Zeiten spricht und nicht gegen seine Überzeugung alles Neue mitmachen und dann wieder vergessen will. Der Wind hat sich gedreht: Waren es früher die Kinder, die nicht aufzumucken hatten, so sind es jetzt die Großeltern, und bald werden es die Eltern sein. Nicht mehr der Zauberlehrling, sondern der Hexenmeister selbst kann die Geister, die er rief, vermutlich kaum loswerden. Keinesfalls sollte man aber - wie es Mode geworden ist - die sogenannte "antiautoritäre Erziehung" für die heutigen Schwierig-keiten verantwortlich machen. Dieser Versuch war die Reaktion auf eine lange verhängnisvolle Entwicklung und mußte hilflos bleiben angesichts der Logik des Fortschritts. Selbst wenn die Reformer dem beschriebenen Umkippen des Generationsverhältnisses ungewollt Vorschub geleistet haben, dann doch wohl in jenem tragischen Sinne, daß der Helfer in bester Absicht das Übel mit herbeiführt. (Um Siegfried zu retten, bezeichnet Kriemhild selbst die verwundbare Stelle, an der ihn der tödliche Speer treffen wird.) Das konnte aber nur geschehen, weil die Kräfte der Zerstörung ohnehin schon am Werke sind und alle, auch die Gegenströmungen mit in ihren Strudel hineinreißen.
Wenn ein langfristiges Denken über Generationen hinweg sowieso nicht mehr gelingt, dann kann man doch ruhig gleich noch ein Stück weitergehen und fragen, wer denn überhaupt gesagt hat, daß menschliches Leben immer weiter bestehen soll. Das Wort von der Bewahrung der Schöpfung ist ein gutgemeinter Appell an religiöse Menschen. Wer aber einem vermuteten Schöpfer die Macht zur Schaffung eines ganzen Universums zuschreibt, der muß auch mit seiner Macht rechnen (und ihm das Recht zugestehen), wenigstens Teile des Werkes wieder zu zerstören. Und wer nicht an einen Schöpfer glaubt, sollte ebenfalls streng trennen zwischen den Lebensplänen der Menschen und dem, was als "Lebensplan" des Universums vermutet, aber von Menschen nicht verstanden werden kann. Große Naturkräfte haben stets auch menschliches Leben zerstört. Gerade die Versuche, das zu verhindern, haben zu den beschriebenen Schutzmechanismen geführt und damit zum heutigen Zustand. Globales Denken ist gut, universelles Denken ist besser: Was berechtigt uns anzunehmen, daß etwas, das vom Standpunkt der Menschen wünschenswert erscheint, auch realistisch ist? Wer sich zum Realisten aufschwang, indem er durch ständiges Produzieren das Überleben sichern wollte, der möge nun dartun, inwiefern ein Überleben überhaupt vorgesehen ist vom "Standpunkt" des Universums. Ebensogut kann doch darüber nachgedacht werden, wie sich die Menschheit auf die beste Weise von diesem Planeten verabschiedet. Sie kann sich dann vielleicht die aufgeregte Suche nach neuen Spielarten des Kapitalismus ebenso ersparen wie den Streß immer angestrengteren Arbeitens für die einen und die Ausgrenzung für die anderen. Niemand weiß, wieviel Zeit uns verbleibt und wohin sie uns führen wird; aber die Wahrscheinlichkeit eines Scheiterns des "Großversuchs Menschheit" ist nicht gering. Wie soll man sich also verhalten, wissend, daß man nicht weiß?
Beobachtung 9
Diese Beobachtung konnte ich - leider - nicht in den Jahren seit 1989 machen. Sie stammt aus meiner Schulzeit und betrifft die Situation, die ich öfter erlebte, wenn bei einem Tumult von einer Klasse oder Gruppe absolute Ruhe verlangt wurde. Die Einsicht, daß diese Ruhe eintreten muß, ist in dem von mir geschilderten Falle durchaus vorhanden. Was sich jedoch ergibt, ist das genaue Gegenteil; denn diejenigen, die sich zuerst besinnen, mahnen lautstark die anderen zur Ruhe. Darauf kommt von denen der Vorwurf zurück, daß sie ja selber Lärm machten. Hierauf tobt das Wortgefecht eine Weile stärker als vorher, bis möglicherweise ein paar Jungen und Mädchen mehr begriffen haben, daß es so nicht weitergeht. Die verbünden sich nun mit den ersten Mahnern und versuchen, mit mehr Gelassenheit als zuvor zu erklären, warum Ruhe notwendig ist. Dennoch antwortet die andere Gruppe wieder mit Vorwürfen, da ja absolute Ruhe eintreten soll, welche auch halblaute Diskussionen ausschließt. Natürlich kann die vernünftige Gruppe das nicht auf sich sitzen lassen, schließlich will sie nur das Beste. Folglich entwickelt sich wieder der anfängliche Lärm. Und selbst, wenn dieses Hin und Her sich noch einige Male bei immer leiser werdendem Pegel abspielt, findet sich doch immer wieder einer, der wenig-stens zum anderen "Psst!" sagt, worauf er die Antwort erhält: "Ja, psst ist auch Lärm!", und die nächste Welle von Unruhe ist fällig. Ich kann mich noch gut an diese Begebenheiten erinnern und daran, daß mir in solchen Momenten sehr deutlich wurde, wie sehr ich einerseits Teil eines Ganzen, andererseits aber ein einzelnes, für mich allein verantwortliches Wesen bin. Ich weiß noch genau, wie sehr ich mich für die herzustellende Ruhe verantwortlich fühlte und wie ich doch zugleich bemerkte, daß nur die - scheinbar - gegenteilige Haltung mich fähig machte, zur Ruhe beizutragen. Ich mußte nämlich paradoxerweise zuerst die Hoffnung aufgeben, daß die Klasse jemals still sein würde, und mir statt dessen sagen: "Ich für meinen Teil beschließe jetzt, vollkommen ruhig zu sein, egal was um mich herum geschieht." Danach gelang es mir tatsächlich, mit meiner Lautlosigkeit andere anzustecken und den gewünschten Zustand zu erreichen, indem ich die selbstgefundene Ruhe bewußt den anderen mitteilen konnte.
Später erlebte ich dies noch unzählige Male in der Musik. Als Künstler habe ich die Möglichkeit, Erfahrungen zu machen (und sie mit meiner Arbeit auch zu organisieren), die das so oft bemühte Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft betreffen, in meinem Fall aber nicht von außen betrachtet, sondern am eigenen Leibe gefühlt. Die Spannung zwischen der Existenz als Gruppenmitglied und der Eigenverantwortlichkeit auszuhalten, das kann nicht abstrakt beredet, sondern muß geübt werden, und musikalische Prozesse sind dafür ein ideales Versuchsfeld.
Wer - selbstverständlich zu Recht - darüber spricht, wie sehr die Seite des Individuums unter pseudosozialistischen Verhältnissen zugunsten eines verordneten Kollektivs vernachlässig wurde, der sollte sich auch darüber klar sein, welche verheerenden Folgen das gegenteilige Defizit bereits zeitigt und noch weiter zeitigen wird; denn es ist viel umfassender, als es das Wort von der Ellenbogengesellschaft zum Ausdruck bringt. In einer Gemeinschaft, die den Namen verdient, ist jedes Mitglied am Wohlergehen der anderen interessiert, weil er von diesen die Kräfte zurückbekommt, die er selbst auch zu geben bereit ist; weil er am Schaden der anderen langfristig selbst Schaden nimmt. Wenn Verantwortung gemeinsam getragen wird, dann wird auch entstehende Schuld gemeinsam getragen; denn die Gemeinschaft ist sich darüber klar, daß ihre Kräfte nicht gereicht haben, um das schwächste Kettenglied, an dem der Zusammenhalt abgerissen ist, wieder stabil zu machen. Dann ist Strafe so sinnlos, als wollte einer seinen eigenen kleinen Finger bestrafen, weil er sich anders bewegt hat, als er eigentlich sollte. Wenn dagegen Konkurrenz zum obersten Prinzip erhoben wird, scheint der Zusammenhalt überflüssig. Die Folge ist eine Privatisierung der Verantwortung, und überall wird jetzt Strafe für notwendig gehalten, die nichts anderes ist als der privatisierte Schuldvorwurf. Aber während man einzelne "Täter" verfolgt, übersieht man das Grundübel: massenhaftes Interesse daran, daß es anderen Leuten schlecht geht. Verdient wird daran, daß Leute Angst haben: vor Krankheit, vor Unfällen, vor Dieben und Gewalttätern. Verdient wird vor allem daran, daß Leute, die nicht glücklich sind, jede Art von Ersatzbefriedigungen brauchen (deren Folgen man wieder - zwecks weiteren Verdienstes - behandeln kann). Der einzelne kann sich durchsetzen, weil andere schlechter sind, als er selbst, wird also den Teufel tun, ihnen zu helfen. Jeder ist sich selbst der Nächste, und umsonst ist der Tod - was natürlich auch nicht mehr stimmt; im Gegenteil: Verdient wird daran, daß Leute mit allem, was den Tod ihrer Angehörigen betrifft, nichts zu schaffen haben wollen. Wenn schon alles zu Geld gemacht wird, wäre es nur konsequent, für jeden freundlichen Blick eine Gebühr zu berechnen....
Jeder mag für sich der Illusion nachhängen, sich einen Vorteil ergaunert zu haben. Die Gesellschaft insgesamt verliert, wie an der steigenden Anzahl chronisch Kranker zu sehen ist (an denen dann wieder verdient wird usw.usw.)
Rettungsversuche, die ohnehin wenig aussichtsreich sind, weil die Interessen in einer solchen Nicht-Gemeinschaft immer weiter auseinandergehen, gleichen sehr dem Bemühen um Stille in der Schulklasse. Wer "Ruhe!" ruft, beansprucht im Grunde genommen bereits ein Sonderrecht. (Mit einer Fernsehsendung über Ökologie verbraucht man schon wieder Strom und Material usw. "Der Rabe Ralf - ausgezeichnete Monatsschrift der Grünen Liga Berlin - bringt in einem Artikel über den Berliner Klima-Gipfel (Heft 7-8/95) den Nachweis, daß dieses Ereignis selbst erhebliche ökologische Belastungen (Verkehr, Schadstoffe, Müll) verursacht hat.) Wer "Ruhe" lebt, muß dagegen in jedem Moment allein, mit seiner ganzen Person für sie einstehen. Es scheint nur so zu gehen, daß ich von meinem eigenen (lustvoll gestalteten) Leben aus zuerst zu meinen Nächsten Beziehungen suche und deren Intensität auf andere ausstrahlen lasse; daß ich mit allem, was ich kann, zunächst im engeren Kreise wirksam werde und daneben vielleicht ein paar Gedanken entwickle, die für die Allgemeinheit hilfreich sind. Freilich ist gerade dazu ein Selbstbewußtsein nötig, das den Menschen in sich ruhen läßt, statt nach permanenter Bestätigung von außen zu verlangen. Die öffentliche Tätigkeit ist eine gefährliche Falle für Leute mit nicht einmal überdurchschnittlichem Geltungsbedürfnis. Wird doch auch der Erfolg privatisiert, indem besonders die Medien auf allen Gebieten Stars präsentieren (obwohl deren Image gar nicht denkbar ist ohne ein weites Umfeld von Menschen, die dazu beitragen). Wodurch aber dieser Erfolg? Nun, im allgemeinen durch das bestens gekonnte und bejubelte Vorangehen in die falsche Richtung! Dagegen gibt es für jemanden, der die verhängnisvolle Gesamtbewegung korrigieren will, drei Möglichkeiten: entweder wird er mit diesem Anliegen berühmt gemacht (das beste Mittel, um viel darüber zu reden und wenig zu handeln); oder er wird bekämpft (wenigstens noch Aufmerksamkeit, übrigens die, die der Sozialismus seinen Kritikern zuteil werden ließ); oder er wird - vielleicht nach kurzer Medienpräsenz - einfach ignoriert (das beste Mittel, um ihn kleinzukriegen). Wer ist sich im letzten Falle schon sicher, daß er nicht wegen tatsächlicher Bedeutungslosigkeit unbeachtet bleibt?
Um diesen Alternativen von vornherein zu entgehen, versuche ich, aus den einzelnen Momenten und der Gesamtheit meines Lebens jene Befriedigung zu holen, die ich von der Öffentlichkeit gar nicht wollen kann. Und auch für jeden anderen Menschen gilt, daß er die Antwort auf die Frage "Was tun?" nur konkret und praktisch findet, sie also von keinem Weltverbesserer - natürlich auch nicht von
mir - erwarten darf.
Beobachtung 10
Als der Hallenser Psychologe Hans-Joachim Maaz am Ende des Jahres 1989 in einer Diskussion mit Pädagogen davor warnte, die DDR zu einer Konsumgesellschaft zu machen, entgegnete ihm ein Staats-Pädagoge: "Ja bitte schön, wenn Sie in Erdhöhlen leben möchten..." Wie die Fronten zu dieser Zeit verliefen, sieht man an diesem Beispiel deutlich (selbst der Tonfall mutet bekannt an, siehe Beobachtung 7): Die Staatsdiener waren ziemlich ungebrochen für Wirtschaftswachstum und Leistungsgesellschaft, die damals dominierenden Oppositionellen (zu denen Maaz gehörte) für ökologische Reformen und die Befreiung geistiger und körperliche Kräfte. Die Methode, dem Kontrahenten etwas zu unterstellen, was er gar nicht gesagt hat, war weder im Osten noch im Westen neu. Schon die Losung: "Atomkraft, nein danke!" hatte man gekontert mit "Steinzeit, nein danke!" Dabei haben wir gesehen, daß nichts aber auch gar nichts für die Annahme spricht, die Steinzeitmenschen wären unglücklicher gewesen als wir. Auch ist die Vorstellung nicht so abwegig, daß die Menschheit nach einer ökologischen Katastrophe tatsächlich auf Erdhöhlen angewiesen ist. Statt sich aber die möglichen Schreckbilder der Zukunft vor Augen zu führen, macht man sich dieselben lieber in der Vergangenheit zurecht. Im Munde des offiziellen DDR-Vertreters nahm sich eine solche Argumentation besonders merkwürdig aus, da die sozialistischen Länder mit den Früchten des Fortschritts ja gar nicht dienen konnten. Hier zeigt sich das ganze Dilemma der "Wende"-Situation. Die Regierenden besonders in der DDR hatten mit ihrer Orientierung auf Weltmarkt und neue Technologien schon den Boden bereitet für eine Übernahme durch den Westen. Rudolf Bahro sagte auf dem SED-PDS-Parteitag: "Eure Kombinate sind längst Brückenköpfe der westlichen Konzerne!" Noch die SED vor ihrer Umbenennung hatte die Marktwirtschaft ausgerufen! Zwischen den feindlichen, nichtdestoweniger recht ähnlichen Brüdern (den Regierenden in Ost und West) mußte die DDR-Opposition zerrieben werden, zumal sie selbst - wie sich inzwischen gezeigt hat - sehr gegensätzlichen Herren diente. So war es möglich, mit dem Ruf "Keine Experimente mehr!" jede Gesellschafts-Utopie als überflüssig oder veraltet zu diffamieren, während Wissenschafts-Utopien wie Pilze aus dem Boden schießen und ein technisches Experiment das andere jagt.
Sozialismus und Fortschritt
Von Anfang an war die sozialistische Idee eng mit dem Fortschritts-Glauben verbunden. Darin besteht ihr eigentlicher vom Kapitalismus ererbter Geburtsfehler. "Kommunismus = Sowjetmacht + Elektrifizierung", diese Leninsche Formel zeigte das Selbstverständnis, mit dem das neue System das alte übertreffen wollte, aber nicht seine ganze Realität; denn einige Wachstumsbremsen waren eingebaut. Insbesondere fehlte das dem Kapital eigene Bestreben, nicht nur vorhandene Bedürfnisse gewinnbringend zu bedienen, sondern sogar neue Bedürfnisse hervorzurufen, kurz, es fehlte fast alles, was heute zur Werbung gehört.
"Plaste und Elaste aus Schkopau", wie oft haben sich westliche Besucher über diese altmodische, hilflose DDR-Werbung auf der Autobahn belustigt. Sicher, auf so etwas schlecht Gemachtes konnte man verzichten. Aber auf die geschickt gemachte Werbung konnte ich auch verzichten. Oder war sie etwa eines der Reformziele des "Sozialismus mit menschlichem Antlitz"? Wenn ja, kann es menschlich sein, süchtig zu werden nach dem, was die Mächtigen zu vergeben haben? Das Abhängig-Machen ist vielmehr eine der beiden Grundformen von Menschenbeherrschung. Die andere ist mehr oder weniger nackte Gewalt, welche natürlich immer den schlechteren Eindruck macht, zumal sie oftmals den Widerstand eher hervorruft, als daß sie ihn erstickt. Die Sozialisten blieben stets auf dieses Mittel angewiesen, wenngleich sie es - Ironie der Geschichte - am Ende nicht gebrauchten. Die westliche Gegenseite, die bekanntlich auch nicht auf Gewalt verzichtete, wann immer sie notwendig war, hatte zwei unschätzbare Vorteile:
Zum einen konnten die Rollen zwischen den Wirtschafts- und den Politbossen geteilt, konnte somit jede allzu mißliebig gewordene Herrschaft sofort beendet und das Gesamtsystem der Kritik entzogen werden (während bis heute jeder Kommunist oder Sozialist für die Handlungen jedes Kommunisten oder Sozialisten mitverantwortlich gemacht wird). Zum anderen gibt es eine jahrhundertelange Übung in der Kunst, Menschen unmerklich für die Ziele der Herrschenden einzuspannen. Der Fabrikant, der seinen Arbeitern das eben verdiente Geld für Branntwein sogleich wieder abnahm, hatte die Grundidee. Seitdem ist der Kreislauf des Geldes unvergleichlich komplizierter geworden, aber das Prinzip ist das gleiche geblieben: Leute, die konsumieren, vergessen, daß man sie soeben ihrer Kräfte beraubt hat. Wenn man ihnen heute ein neues Vergnügungsmittel aufschwatzt, werden sie morgen vielleicht noch härter arbeiten, um es übermorgen zu bekommen. Inzwischen ist ihnen bereits das nächste in Aussicht gestellt, so daß sie sich ganz freiwillig dem System unterordnen. Streng muß darauf geachtet werden, daß sie für ihr Vergnügen bezahlen; denn die einfachen Freuden, die nichts kosten, blockieren den Kreislauf des Geldes.
Jetzt wissen wir, warum der Genuß in seiner reinen Form - wie in Beobachtung 3 die einfache Liebe und Sexualität ohne Hilfs- und Ersatzmittel - für weniger wichtig erklärt werden konnte als das Inanspruchnehmen der Vergnügungsindustrie. Wer an letzterer verdient, hat natürlich ein Interesse an dieser Umwertung. Und da mit dem herausgewirtschafteten Geld auch wieder Meinungen gekauft und manipuliert werden können, hat sich längst die Vorstellung eingefressen, daß der Wert des Lebens um so höher ist, je mehr es kostet. Auch in der DDR gewann diese Anbetung des (West-)Geldes immer mehr Raum, wobei Regierende und Regierte sich gegenseitig aufschaukelten. Wie weit wir allerdings nocht immer vom West-Standard (auch in dieser Beziehung) entfernt waren, sehen wir jetzt, wo eigentlich nur noch vom Geld die Rede ist. In der Anfangszeit der DDR war das wesentlich anders, und ich kann auch nachträglich darin keinen Fehler, sondern nur einen Vorzug sehen. Freilich stellte sich bald heraus, wie schwer es war, eine Wirtschaft ohne die Mechanismen des Kapitalismus in Gang zu halten. Mit Recht ihrer Fähigkeit mißtrauend, etwas völlig Neues aus dem Boden zu stampfen, suchte die Führung ständig nach Ersatzmitteln, um die Menschen zu motivieren. Dabei waren die Preissenkungen noch ein Schritt in die Richtung des erklärten Zieles: Abschaffung des Geldes. Später mußte immer mehr Überredung und Propaganda einge-setzt werden. Die Parole: "So, wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben" bediente schon die kapitalistische Bedürfnislogik. Die Appelle, mehr zu arbeiten, überschlugen sich: Fünfjahrpläne, Aktivistenbewegung, sozialistischer Wettbewerb.... Da auch das alles nicht zu den selbst auferlegten ökonomischen Zielen führte, wurden Anleihen beim Gegner aufgenommen, im übertragenen und im wörtlichen Sinne. Der Ehrgeiz, es den Kapitalisten nachzutun, beherrschte eine größer werdende Zahl von Verantwortlichen. Doch gab es noch immer einen Vorrat von Grundüberzeugungen, der beispielsweise Halt machen ließ vor der Möglichkeit, die Arbeitslosigkeit zur Disziplinierung zu nutzen.
Halbherzig im Schlechten wie im Guten, blieben die Länder des sozialistischen Lagers genau das, was sie selbst am allerwenigsten sein wollten: die letzte Bastion gegen den Fortschritt.
Eigentum und Fortschritt
In einer Bastion kann man auf Dauer nicht leben. Schon gar nicht, wenn die Gründe, warum man sie besetzt halten soll, allmählich undeutlich werden (Das Stück "Die Festung" von Dino Buzzati, noch zu DDR-Zeiten von Werner Buhss als Hörspiel bearbeitet - und erstaunlicherweise gesendet! - zeigt diese Situation in ihrer ganzen Absurdität.) und der Gegner von draußen beständig Almosen hereinreicht. Die nicht abreißende Kette freiwilliger Rücktritte von kleineren DDR-Funktionären im Spätherbst 1989 zeigte klar die allgemeine Resignation. Vor diesem Hintergrund konnte Volkes Aufbruchsstimmung leicht in frohen Farben erscheinen.
Welche Fäden in dieser Zeit von westlicher Seite gesponnen wurden, das wird vielleicht niemals bekannt. Sicher aber ist eines: Es war ein großes Glück für das westdeutsche Kapital, daß die Übergabe friedlich geschah. Denn auf diese Weise konnte man die DDR als ganzes Paket übernehmen, es selbst aufschnüren und den Inhalt unter sich aufteilen. Eine Revolution, die den Namen verdient, ist ein Bruch auch in den Eigentumsverhältnissen. Sie zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sie Rechte, die andere aus der Vergangenheit herleiten, nicht mehr anerkennt. Auch hier sieht man wieder die Folgen getrennter Betrachtungsweise, die es ermöglicht, die Parole "Keine Privilegien mehr!" zu unterstützen und zu vergessen, daß bereits das Erbrecht ein Privileg darstellt, das durch nichts als die Geburt begründet ist (während die politischen Privilegien wenigstens noch durch irgendeine Art von Tätigkeit erworben waren). Was es in der DDR zu vererben gab, blieb in der Regel überschaubar, weil es im Familiengebrauch war, also Besitz genannt werden durfte. Auch den Unterschied zwischen Besitz und Eigentum mußten die Ex-DDR-Bürger erst kennenlernen. Die massenhaft anerkannten Ansprüche von Erben, die mit ihrem Eigentum nie das geringste zu tun hatten (es also nie besessen haben), sind massenhaft verliehene Privilegien. Wie käme aber eine Revolution dazu, solche Privilegien zu verleihen? Eine Revolution stellt im Gegenteil den Begriff des Eigentums selbst zur Diskussion. Sie wirft die grundsätzliche Frage auf, mit welcher Berechtigung die einen über Eigentum verfügen und die anderen nicht.
Sie bündelt den angestauten Zorn der Eigentumslosen darüber, mit welchen Methoden Eigentum aufgehäuft wurde. Dieser Zorn ist nicht der Neid der Besitzlosen auf die tüchtigen Unternehmer, wie heute so gern unterstellt wird. Vielmehr ging es in erster Linie darum, daß zu Eigentum erklärt wurde, was ursprünglich allen gehört hatte. Vielen Bauern hatte man einmal dadurch die Lebensgrundlage entzogen, daß Weideland und Wald privatisiert worden waren. Wie sehr aber dieser Ausdruck die wahren Verhältnisse trifft, zeigt die Übersetzung: privare = rauben! Sich das Weggenommene zurückzuholen, wurde im nachfolgenden System bereits für Unrecht erklärt, das Verhältnis zwischen Raubenden und Beraubten wurde umgekehrt. Die nun "Räuber" genannten Empörer genießen heute noch heimliche Bewunderung. Nach offizieller Lesart haben sie sich am Heiligsten vergriffen, was es gibt, am Eigentum. Aber noch immer weiß oder fühlt man irgendwie, daß dies nicht die ganze Wahrheit ist. Die Privatisierung ging allen Skrupeln zum Trotz immer weiter. Heute umfaßt private Verfügungsgewalt bereits alle Lebensgrundlagen der Menschheit, so daß eine revolutionäre Fragestellung weit über das Problem hinausgehen muß, wie Reichtum anders verteilt werden kann. Der Begriff des Reichtums muß selbst in Frage gestellt werden ebenso, wie es mit dem Begriff Wachstum geschah. Der ursprüngliche Reichtum war eine Eigenschaft der Natur, lange bevor es Menschen gab. Auf Kosten dieses Reichtums ist das erwirtschaftet worden, was heute "Reichtum" genannt wird. Aber nicht nur auf Kosten der Natur, auch auf Kosten der Menschen anderer Kontinente ist er entstanden. Er wurde durch Verbrechen großen Stils zusammengeraubt schon zur Zeit der Entdeckungen. Das Land, von nichteuropäischen Völkern besessen, wurde nicht etwa vollständig in Besitz genommen, - nein, das hätte ja bedeutet, daß man es selbst hätte bearbeiten und pflegen müssen -, es wurde zu Eigentum erklärt, aus dem man durch die Arbeit der einheimischen Bevölkerung Gewinn herausschlagen konnte. Die einzige Rechtfertigung, die man dafür hatte (sofern man sich die Mühe machte, eine zu suchen), war der Fortschritt. Man brachte den "primitiven" Völkern in Afrika, Asien, Australien und Südamerika den Fortschritt! In Nord-Amerika verlief die Sache etwas anders: Das Land wurde nach der Ausrottung der Indianer tatsächlich in Besitz genommen. Da man aber zu allen Arbeiten, die wirklicher Besitz erfordert, gar nicht willens war, holt man sich die Sklaven dazu aus Afrika. So sah sie aus, die Zentrale des Fortschritts! Aus der Arbeit der schwarzen Sklaven entsprang der Reichtum in den USA; noch das deutsche Wirtschaftswunder wurde ermöglicht durch Kapital, das sich aus Tod, Leid, Identitätsverlust und Knochen-arbeit von Millionen Afroamerikanern gespeist hat. Es fällt mir schwer, mich angesichts einer solchen Vorgeschichte über Enteignungen aufzuregen, die nach 1945 erfolgten und die sicher zahlreiche Einzelpersonen zu Unrecht trafen. Daß aber die Eigentumsfrage ganz grundsätzlich gestellt werden mußte und daß es absolut keinen Grund gab, Eigentum als etwas Unantastbares zu betrachten, ist mir nur zu gut verständlich.
Die eigentliche und damals nur unvollständig geklärte Frage war die, was man mit so viel Eigentum machen sollte, da es sich schon einmal angesammelt hatte. Es war das Bestreben jeder Revolution, Eigentum aufzuspalten und auf mehr Besitzer zu verteilen (während der bloße Eigentümerwechsel den Kriegen vorbehalten war). Es ist das ungelöste Problem aller Revolutionen, daß der verkleinerte Besitz allmählich wieder zu wachsen beginnt und der vorrevolutionäre Prozeß auf neuer Stufe von vorn anfängt. Das Wachstum (Anfüh-rungsstriche immer weggelassen) macht also die Ergebnisse jeder Revolution zunichte, so daß man schon verzweifeln kann angesichts des fortgesetzten Mißerfolges. Der Versuch, so etwas wie ein Volkseigentum zu bilden, war daher so lächerlich nicht, wie es heute gern dargestellt wird. Er war nur in sich widersprüchlich wie vieles andere auch.
Persönliches Eigentum und Besitz waren ursprünglich dasselbe und äußerst bescheiden, weil der wirkliche Reichtum der Natur völlig außerhalb dieser Kategorie existierte. Daß man sich (mit welcher Berechtigung übrigens?) Pflanzen und Tiere aneignete, war ein entscheidender (Fort-)Schritt von diesem Zustand weg. In dem Moment, da eine Familie sich mehr Land und Vieh nahm (oder auch raubte), als sie betreuen konnte, begann die Trennung von Besitz und (privatem) Eigentum. Diese Trennung hat sich durch die Jahrtausende hinweg stetig vertieft. Je mehr produziert wurde, um so mehr gab es zu behalten oder anderen wegzunehmen. Fortschritt und Privatisierung gingen Hand in Hand.
Daß man im Sozialismus die Abschaffung des Privateigentums und den Fortschritt gleichzeitig haben könne, war also eine Illusion. Es war einfach zu viel da an Dingen und Werten, und es war bereits zu komplex, als daß man es überhaupt noch in Besitz aufteilen konnte. So blieb es Eigentum, aber nicht des Volkes, sondern des Staates. Es blieb anonym, und letztlich fühlte sich für seine Teile niemand verantwortlich. Was wir jetzt erleben, ist die genaue Umkehrung. Für die Teile fühlen sich die Privateigentümer schon verantwortlich, aber nicht für das Ganze. Jeder weiß um die Gefahr einer Klimakatastrophe, aber keiner ist bereit, auf Profit zu verzichten, um sie zu verhindern. ("Ja, soll ich etwa in Konkurs gehen und meine ganze Existenz vernichten?" Nein, den Mut, sein persönliches Fortkommen aufs Spiel zu setzen, kann man natürlich nur nachträglich von den DDR-Bürgern verlangen.) Wir steuern damit auf einen Zustand hochtechnisierten Verfalls hin. Das "Volkseigentum" erlebte dagegen in Teilen, zum Beispiel manchen Städten, den einfachen, fast könnte man sagen: den natürlichen Verfall. Vom Standpunkt des Fortschritts, also aus der Sozialisten eigener Sicht, mußte er als größte Schande erscheinen, zumal er so offensichtlich war. Einen, der diese Sichtweise (und damit auch die Schande!) relativieren wollte, hatten sie freilich selbst eingesperrt und aus dem Lande gejagt. Rudolf Bahro (in seinem Buch "Logik der Rettung" hat Bahro einen der wichtigsten Beiträge geleistet, um getrennte Wissensgebiete zusammenzuführen und einen Überblick über die nicht tragfähigen Grundlagen gegenwärtigen Lebens zu schaffen) empfahl, doch den Verfall der Städte - da er nun einmal Realität war - als Chance zu begreifen, um ländliches Leben und damit Naturnähe wieder in sie eindringen zu lassen. Er schlug vor, diese Städte zu entflechten und eine Mischform zwischen Stadt und und Dorf zu erproben. Er wurde nicht ernstgenommen; er wurde sogar ausgelacht wie so mancher vor ihm, der zur Umkehr gemahnt hatte. "Die Geschichte" sorgt dafür, daß sie (oder wenigstens ihre wichtigsten Gedanken) vergessen werden, während die Entdecker und Erfinder im Gedächtnis bleiben. Dabei sind sie die ersten, die man verantwortlich machen muß, wenn man schon Schuldige für den gegenwärtigen Weltzustand suchen will. Nicht wenige von ihnen waren bereit, ihre Neuerungen direkt für Tod und Vernichtung zu entwickeln. Sieht man von diesen ab, dann haben auch die übrigen genau das getan, was man heute Marx, Engels usw. vorwirft (und haben es zum Teil lange vor ihnen getan): Entwicklungen in Gang gesetzt, die sie in ihrem ganzen, immer auch zerstörerischen Umfang nicht voraussehen konnten.
Demokratie und Fortschritt (1)
Es mutet schon merkwürdig an, daß ausgerechnet jener Staat, der seine Ureinwohner ausrottete, der durch die Arbeit herbeigeschleppter Sklaven mächtig wurde, in dem bis heute die Gleichberechtigung der Rassen zumindest problematisch ist, daß ausgerechnet der Staat USA das große Beispiel für Demokratie sein soll. Angesichts eines solchen Vorbilds ist auch Skepsis gegenüber dem parlamentarischen System der Bundesrepublik geboten. Dieses hat man 1989/90 den DDR-Bürgern leicht anpreisen können, da sie sozusagen überhaupt keins hatten. Inzwischen muß auch der letzte die allgemeine Parteien- und Demokratieverdrossenheit im ganzen Land zur Kenntis nehmen, und übrig bleibt die Feststellung, daß bis jetzt eben noch kein besseres System gefunden worden sei. Selbst wenn das stimmen sollte, wäre es ein höchst seltsames Argument. Man stelle sich den Versuch vor, einem Wissenschaftler, der lange schon an einem neuen Verfahren arbeitet, dies auszureden mit der Begründung, das alte sei gut genug, denn es habe sich bis jetzt noch kein besseres gefunden!
Beobachtung 11
Der Wahlkampf vor der mit so viel Ungeduld erwarteten "ersten freien Wahl" (am 18. März 1990) war dadurch gekennzeichnet, daß überall Wahlplakate übermalt und abgerissen wurden. Natürlich wieder ein Beweis dafür, daß die DDR-Bürger noch Demokratie lernen mußten? Ich halte im Gegenteil diese direkten Aktionen für normaler als das, was nun verlangt wird. Eine für falsch gehaltene (oft genug erkennbar demagogische) Parole hunderte, tausende Male lesen zu müssen, ohne zu reagieren; bis zum Wahltag zu warten, um dann den aufgestauten Ärger nicht einmal mit Durchstreichen der betreffenden Parteien loszuwerden, sondern meist lediglich das Übel ankreuzen zu dürfen, das für das kleinste gehalten wird, ist das etwa Ausdruck von Herrschaft? Mit dem schönen Fremdwort Demokratie läßt sich nämlich ausgezeichnet verbergen, daß "Volksherrschaft" um nichts weniger inhaltsleer und in sich widersprüchlich ist als "Volkseigentum". Das zeigte sich ganz deutlich, wenn es um mehr ging als darum, für Parteien zu werben wie für Waschmittel. Wenn es um das Mitbestimmen von Inhalten ging, waren viele Spezialisten des DDR-Bürgers Tod. Konnte etwa gegen seine Forderung, Zeit zu lassen für einen Klärungsprozeß innerhalb der DDR-Gesellschaft, der (West-)Politiker nichts mehr einwenden, dann kam der (West-)Ökonom und führte Zwänge ins Feld, die wirtschaftliche Einheit schnell herzustellen. Hielt man dem entgegen, daß selbst bei einer Einführung der DM die staatliche Einheit mit allen Konsequenzen nicht sofort hergestellt werden mußte, dann kam der (West-)Jurist und präsentierte Artikel 23 des Grundgesetzes. Forderte man dieses im vollen Wortlaut ein samt darin nahegelegtem Volksentscheid über eine neue Verfassung, kam wieder der Politiker und behauptete, daß bei einem Volksentscheid auch die Todesstrafe eingeführt würde (die es übrigens in den USA ganz ohne Volksentscheid gibt). Ja, wie nun? Mal darf die Mehrheit entscheiden, mal darf sie nicht entscheiden? Und wer entscheidet, wann sie ent-scheiden darf?
Auch diese Frage ist schon falsch gestellt. Es gibt überhaupt keine Berechtigung dafür, daß eine Mehrheit Fragen von allgemeiner Bedeutung entscheidet; nicht einmal ihr objektives Interesse (falls feststellbar) rechtfertigt eine Entscheidung, sofern sie anderen Interessen zuwiderläuft.
Denn jede Mehrheit ist Minderheit in einer nächstgrößeren Mehrheit: Die Mehrheit in einer Partei ist Minderheit im Lande. die Mehrheit in Deutschland ist Minderheit in Europa, die Mehrheit in Europa ist Minderheit auf der Erde, die Mehrheit der Menschheit ist Minderheit im Tierreich. Wer sich auf die Mehrheitsentscheidung innerhalb einer Gruppe beruft, nimmt in Kauf, daß die Interessen anderer (evtl. viel größerer) Gruppen verletzt werden. Die entscheidende Frage nämlich kann damit jedesmal ausgeblendet werden: Ist die deutsche Mehrheitsentscheidung gut für Europa, die europäische gut für die Menschheit, wäre die Mehrheitsentscheidung der Menschheit gut für alle Lebewesen?
Demokratie und Fortschritt (2)
Das Problem besteht schon darin, daß so viele Entscheidungen zu treffen sind. Die Natur besitzt vom Ursprung her genügend Möglichkeiten zur Selbstregulierung. Aus gutem Grund wurde in früheren Kulturen versucht, vor jeder wichtigen Unternehmung den "Willen der Götter" herauszufinden. Das entsprach der Einsicht in die Notwendigkeit, mit den ordnenden Naturkräften in Übereinstimmung zu bleiben, entsprach der Einsicht in die Gefahr, diesen Kräften unwissentlich zuwiderzuhandeln. Seit sich der Christenmensch einen Gott nach seinem Bilde geschaffen hat (ketzerische Umkehrung des Bibelwortes: "Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde . . ."), wird der "Wille der Götter" (sprich: die Selbstregulierung der Natur) mehr und mehr ersetzt durch willentliches Handeln der Menschen. Inzwischen gibt es eine unübersehbare Fülle von Problemen, weil es eine unübersehbare Fülle von Dingen gibt. Es muß immer mehr entschieden werden, weil es immer mehr zu verteilen gibt und weil sich die Dinge immer schneller ändern.
Einem Beobachter mit Durchblick müßte dieses willkürliche Handeln als törichtes Gehampel und Gefuchtel erscheinen. Die "Räder der Natur", die man lenken will, bekommt man nur zufällig und kurzzeitig zu fassen; meist wird danebengegriffen, schon weil es nicht gelingt, einen Überblick über das Entscheidungsbedürftige zu gewinnen, kann gar keine Rede davon sein, ein Volk könne als Souverän den absoluten Herrscher ablösen. Erst recht nicht bei der weltweiten Vernetzung der Industrie und den globalen Auswirkungen vieler Technologien. Es werden tatsächlich überall wilde, egoistische Entscheidungen getroffen, deren Auswirkungen aber weit über den Entscheidungsraum hinausreichen, so daß Politiker (ganz gleich, ob sie vorhaben, das Volk zu vertreten oder nicht) zu dem eben beschriebenen Herumtappen und Danebengreifen verdammt sind. Übrigens muß man sich klarmachen, daß der Begriff Demokratie in der Zeit der Sklavenhalter entstanden ist. Demokratie existierte nur für die freien Griechen und nur dadurch, daß Sklaven die wichtigsten Arbeiten verrichteten. Da man aber heute anerkennen muß, daß auch die Sklaven "das Volk" waren, bleiben als Beispiele für wirkliche Volksherrschaft nur die ursprünglichen Stämme, in denen wenig zu entscheiden war, weil sich von Generation zu Generation wenig änderte; in denen über aktuelle Entscheidungen Konsens angestrebt wurde (knappe Mehrheitsentscheidungen - am nächsten Tage schon wieder umkehrbar - die Ausnahme blieben) und als Häuptling oder König der Kräftigste (und nicht der Dickste) gewählt wurde. Wer schweren Herzens anerkennt, daß sich die Spirale hin zu einer klassenlosen Gesellschaft nicht schließen läßt, dem kann nicht zugleich die Herrschaft der ökonomisch Mächtigen als Volksherrschaft verkauft werden.
Es lohnt sich, diese Herrschaft einmal in umgekehrter Richtung zu denken. Man stelle sich als Souverän einen König vor, dem das Recht zusteht, einmal in 4 Jahren zu wählen, welche Leute aus dem Volk in seinem Reich regieren und über Polizei, Armee und Staats-schatz verfügen. Unter Verweis auf die Knappheit des letzteren werden dem König die Mittel zum Leben immer sparsamer zugeteilt (im Falle seiner Krankheit werden sie weiter gekürzt); beständig wird ihm vorgehalten, daß die Zeit für seine Amtspflichten wieder 40 Stunden und mehr pro Woche betragen muß; immer mehr Teile seines Parks werden für industrielle Zwecke beschlagnahmt; schließlich muß er sich überlegen, ob er sein Schloß gänzlich verläßt, weil ihm unter Hinweis auf gestiegene Bewirtschaftungskosten dauernd die Miete erhöht wird. Wenn er sich über all dies beschwert, dann wird ihm gesagt, er könne doch nach 4 Jahren neu wählen, und außerdem stehe ihm die ganze Zeit das Demonstrationsrecht zu. Eine herrschaftliche Stellung fürwahr!
Zurück zu den wirklichen Verhältnissen - für das angeblich herrschende Volk ist die Sache noch viel schlimmer. Ihm stehen nämlich nicht nur die gegenüber, die alle 4 Jahre zu wählen sind, sondern vor allem jene, die ihre Stellung auf Lebenszeit erhalten haben und an deren Ablösung aufgrund der Heiligsprechung des Eigentums nicht einmal gedacht werden darf. Vom kleinen Hauseigentümer, der keine Mieter mit Kindern aufnimmt bis zu den Großindustriellen, die ökologisch katastrophale Entscheidungen mit erlaubten und unerlaubten Mitteln durchsetzen - überall haben Leute das Sagen, deren Macht selbst dann nicht zu brechen wäre, wenn eine Regierung tatsächlich für das Volk arbeiten wollte. Was in einem solch seltenen Fall geschieht, hat sich 1973 in Chile gezeigt, wo das Privateigentum an Produktionsmitteln nicht einmal in Frage ge-stellt worden ist. Nein, es führt nichts an der Erkenntnis vorbei, daß "Demokratie" nur als Schlagwort zur Vernebelung der Gehirne dient und daß wirkliche Volksherrschaft weder mit dem Fortschritt noch mit seinem Ergebnis, dem Privateigentum, vereinbar ist.
Beobachtung 12
Als bei der großen Berliner Demonstration am 4. November 1989 eine Kollegin ihr Transparent entrollte: "Wir brauchen keine Wende - wir brauchen eine Revolution!", habe ich es aus voller Überzeugung mitgetragen. Als ich am gleichen Tag abends ein Klavier-Soloprogramm zu spielen hatte, stellte ich meine Improvisation unter das Motto: "Wunden, die man heilen will, muß man erst aufreißen." Ich war uneingeschränkt für das, was wenig später Aufarbeitung der Vergangenheit genannt wurde. Bald jedoch zeigte sich, daß die Gesellschaft und auch jeder einzelne mit den drei Aufgaben: über Vergangenheit nachzudenken, über Zukunft nachzudenken und in der Gegenwart zu leben, völlig überfordert war. Der Brückenschlag zwischen diesen drei Zeitstrecken ist ohnehin schwierig, wie ich schon gezeigt habe und noch deutlicher zeigen will. Erst recht mußte er die Menschen hier an der geöffneten (nicht gefallenen!) Mauer vor riesige Probleme stellen. Diese waren aus der ständigen Beschleunigung und Vervielfachung unbewältigter industrieller und gesellschaftlicher Prozesse weltweit erwachsen und lagen in einer bis zum Äußersten komprimierten Form über dieser scheinbar beseitigten Grenze, während die die DDR-Bürger noch ihre endlich erreichte Bewegungsfreiheit bejubelten. Daß der Jubel umschlug in Bitterkeit über vorenthaltene Lebensmöglichkeiten und in anklagende Berichte über psychisch und physisch tatsächlich zerstörte Leben, war unvermeidlich. Wenn es überhaupt eine Chance zur Aufarbeitung geben sollte, dann nicht ohne den Versuch, die persönlichen Schicksale in diese weltweiten Zusammenhänge hineinzustellen. (In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 gab es im SFB ein mehr als halbstündiges Life-Interview mit einem Gründungsmitglied des "Demokratischen Aufbruch" (!), in dem genau das in hervorragender Weise geschah. Vorwärts und alles vergessen?) Wer Bewältigung der Vergangenheit wollte, der mußte versuchen, Zeit zu gewinnen, die Uhr des Geschehens gewissermaßen anzuhalten, um die Zeit, welche die Menschen verloren hatten, wieder in sie einströmen zu lassen - ein Vorgang, der schmerzlich und lustvoll zugleich ist, wie ich aus Erfahrungen sagen kann, mit denen ich ganz persönlich in jenen Jahren beschäftigt war. Was statt dessen geschah, war das genaue Gegenteil. Es wurde weiterer Zeitdruck gemacht, auf Beschleunigung gedrängt. Das war der Druck des Fortschritts, der sich für die DDR-Bürger nun sogar verdoppelte. War die im Westen erreichte Geschwindigkeit schon schwindelerregend genug, so kam im Osten die des Nachholens hinzu. Wieder wurde die Erreichbarkeit zweier Ziele zugleich vorgegaukelt, von denen nur das eine oder das andere zu erlangen war. Wollt ihr jetzt die schonungslose Aufarbeitung der (gesamtdeutschen und globalen) Vergangenheit, oder wollt ihr die sofortige Flucht in die Zukunft? - so etwa mußte die Frage lauten. (Wenn ihr euch aber für letzteres entschieden habt, dann verschont mich bitte auch mit den Geschichten, wie sehr ihr unterdrückt worden seid!) Die Konsequenz der nicht gestellten Frage ist bekannt: Der Teufel wurde mit dem Beelzebub ausgetrieben. Ausgerechnet das Geld, mit dessen Hilfe die gesellschaftlichen Prozesse undurchschaubar wurden, mit dessen Hilfe man Empörer zu Räubern und wirkliche Räuber zu Ehrenmännern umlügen konnte, das Abstrakteste, was es gibt, die D-Mark wurde zur Symptombehandlung verabreicht, um niemanden an die Wurzel der Übel gelangen zu lassen. Das war übrigens auch gleich mit dem ersten Wahl-Betrug verbunden, denn man suggerierte den Leuten vor der Wahl sehr geschickt, daß man die Währung 1:1 umstellen werde (natürlich wieder mit verteilten Rollen), während man sich zugleich über die primitive SED-Wahlfälschung nicht genug aufregen konnte. Weil aber die DDR-Oppositionellen gerade damit begonnen hatten, ihre Wahlfälscher zur Verantwortung zu ziehen, fanden sie keine Zeit, auch nur einen offiziellen Protest gegen den folgenschweren CDU-Betrug zu verfassen. Hierin zeigt sich ein Phänomen, das genauer beleuchtet werden muß. Ich meine den plötzlichen Wechsel von der DDR-Perspektive zur gesamtdeutschen, der gerade dadurch, daß er nicht revolutionär vollzogen wurde, sondern unter strenger, beinahe ängstlicher Einhaltung aller Legalitätsvorkehrungen, dem Ostler so viele unvorhergesehene Schwierigkeiten brachte und bringt. Dieser plötzliche Wechsel der Perspektive ist vergleichbar mit einer Rochade im Schach. Ein für die sonstigen Regeln untypischer Zug (der einzige, bei dem zwei Figuren gleichzeitig gerückt werden dürfen) verändert die ganze Stellung oftmals so grundsätzlich, daß schlagartig jede Figur anders dasteht als zuvor. Einem Schachlaien, dem das nicht bekannt ist (was häufiger vorkommt), wird man fairerweise zugestehen, wenigstens seinen letzten Zug zurückzunehmen oder mit der neuen Regelkenntnis noch einmal von vorn zu beginnen. Nicht so bei der deutsch-deutschen Rochade. Dabei kann man hier nicht einmal Regelunkenntnis unterstellen; denn den Anschluß nach Artikel 23 um Jahre vorausgesehen zu haben, ist wirklich von niemandem zu verlangen. Dennoch werden zahlreiche Menschen genau dafür "bestraft", daß sie ihn nicht geahnt haben. Wieder ein persönliches Beispiel dafür, in meinem Falle vorerst ganz undramatisch: Wer in der DDR freiberuflich arbeitete, um den Zwängen staatlicher Anstellung zu entgehen, gilt jetzt als Unternehmer und bekommt, wenn er scheitert, nicht einmal Arbeitslosengeld. Wer es irgendwie fertigbrachte, sich zu arrangieren, hat jetzt unter Umständen das bessere Los gezogen. Solche Zufallsentscheidungen wenigstens seit Anfang 1990 voraussehend, haben sich viele noch in die Startlöcher gesetzt, um im neuen System zu überleben, was manche bei sich selbst ganz normal finden, während sie es anderen (den "alten Seilschaften") vorwerfen. Je mehr Leute nun diesen vorauseilenden Gehorsam übten, um so mehr fühlten sich wiederum gedrängt, es ihnen nachzutun, ein Vorgang, der merkwürdig dem exponentiellen Wachstum ähnelte. (Eugene Ionesco hat das lange vorher in seinem Theaterstück "Die Nashörner" dargestellt. Allerdings werden bei ihm Menschen gezeigt, die Nashörner werden. Mir scheint eher, sie werden Computer wie in Stanislaw Lems Geschichte "Die Waschmaschinen-Tragödie", Aus den Erinnerungen Ijon Tichys in "Stern-Tagebücher".)
Was eben noch der Klärungsversuch innerhalb der DDR-Verhältnisse war, wurde plötzlich Teil eines gewaltigen Restaurationsprozesses. Ein Wendehals, der da sofort ein neues Statement parat hatte! Ein Wendehals vielleicht sogar, wer bereit war, diesen Wechsel so schnell wie gefordert zu begreifen! Um auf das Paradoxon aus Beobachtung 2 zurückzukommen: Hätten viele ihn später "begriffen", das heißt länger nachgedacht und ausprobiert, was innerhalb der DDR zu lösen wäre, dann wären viele Probleme nicht ins vereinigte Deutschland mitgeschleppt worden. Nun, nach der Rochade, wird die offene Auseinandersetzung, die doch begonnen hatte, sogleich neuen Vorbehalten unterworfen. Es ist nicht mehr unser Streit, sondern auch schon der Streit darüber, ob man den Westdeutschen noch weitere Blößen bieten, ob man das eigene Nest weiter beschmutzen soll oder nicht. Gorbatschow sagte vor der UNO den ehrenwerten Satz, daß jeder mit Kritik und Reformen bei sich selbst anfangen müsse. Es kann nur jeder einzelne entscheiden, ob er das öffentlich auch tun will, wenn die andere Seite an Vergleichbares nicht im entferntesten denkt.
Ein weiteres Zeitproblem: der Konjunktiv
Ich habe die eben noch einmal verwendete Formulierung "Hätten viele..., dann wären..." ausdrücklich als Paradoxon bezeichnet. Als ich zu schreiben begann, hatte ich natürlich mit solchen Überlegungen zu tun, mußte aber feststellen, daß sie kaum Erkenntnisgewinn brachten, und die entsprechenden Stellen wieder streichen.
Formulierungen im Konjunktiv hatten seit 1989 Hochkonjunktur; einem Sozialisten allerdings ließ man den Gebrauch nicht durchgehen. Wer etwa sagte: "Wir hätten die DDR retten können, wenn...", der bekam sofort zur Antwort: "Aber sie ist nicht gerettet worden, also was wollen Sie noch?!" Dagegen hätte mal jemand sagen sollen, auf den Satz: "Das SED-Regime hätte früher gestürzt werden können, wenn Sie..." zu antworten: "Aber es ist nicht früher gestürzt worden, also was wollen sie noch?!" Offensichtlich gibt es sogar im Gebrauch der Sprache unterschiedliche Rechte für Sieger und Verlierer. Nun will ich aber keineswegs für das Recht der Ostler auf Konjunktiv streiten. Ein inflationärer Gebrauch von "wenn, hätte, würde und täte" verspricht nichts Gutes, weil es sich in den meisten Fällen um ein Hineinreden der Gegenwart in die Vergangenheit handelt. Das dafür notwendige Vorurteil, daß die Gegenwart klüger sei als die Vergangenheit, meine ich inzwischen so gründlich ad absurdum geführt zu haben, daß man sich eher wünschen mag, die Toten mögen auferstehen, um für Gegenwart und Zukunft ein paar Fingerzeige zu geben. Zwar ist das unmöglich; trotzdem muß etwas Ähnliches wenigstens in Gedanken geschehen, wenn der Gebrauch des Konjunktivs sinnvoll sein soll für praktisches Handeln. Anzunehmen ist ja, daß er ursprünglich dafür da war, eine geistige Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schlagen (das genaue Gegenteil von jenem illusionären Zurück- und Vorwärtswollen, das ich als reaktionär bezeichnet habe); denn er ist ein Durchspielen von Möglichkeiten: Wenn ich a täte, ergäbe sich x; wenn ich b täte, ergäbe sich y; welches Ergebnis wäre mir lieber? Bei diesem ersten Beispiel nur zwischen Gegenwart und Zukunft vermittelnd, ergreift der Konjunktiv beim zweiten auch die Vergangenheit: Hätte ich b statt a getan, hätte sich y statt x ergeben. Da ich jetzt feststelle, daß x nicht gut ist, will ich beim nächsten Mal b tun, um y zu erreichen. Auch das nachträgliche Durchspielen von Möglichkeiten findet hier noch zu dem Zwecke statt, einen erneuten Versuch zu unternehmen. Allerdings wird es häufiger und greift im Denken um so mehr Platz, je mehr es zu unterscheiden gibt. Insofern ist der Konjunktiv der kleine Bruder des Fortschritts. Wenn aber die Veränderungen zu schnell kommen und zu groß werden, kippt auch dieses System um, und der Konjunktiv wird schließlich sinnlos. Dann kann ich nämlich gar nicht mehr x oder y anstreben, sondern nur noch z1 oder z2, und ich muß dafür c1 oder c2 tun, was in der Vergangenheit gar nicht möglich war. Nun zu verlangen: Du hättest damals nicht a oder b sondern c1 tun müssen, ist eine in sich widersprüchliche, im Grunde völlig sinnlose Aussage. Ebensogut könnte man einem Schachspieler, der seinen Gegner in mehreren gut berechneten Zügen mattgesetzt hat, vorwerfen, er hätte das Matt bereits im ersten Zug erreichen müssen. Hier zeigt sich ein Widerspruch im Denken insgesamt, das einmal die Ursachen für menschliches Handeln genau darstellen will, von den Individuen dann aber doch erwartet, daß sie die Kette von Ursache und Wirkung durchbrechen. Letzteres wird Freiheit genannt.
Freiheit!! Auch ein Lieblingswort der Wende-Zeit und hervorragend geeignet, viele Leute zum Sprechchor zusammenzubringen, weil sich jeder etwas anderes darunter vorstellen kann. Es konnte die selbstverständlich notwendige und längst überfällige Presse- oder Reisefreiheit ebenso gemeint sein wie die Freiheit, auf Kosten anderer Gewinn zu machen. Es konnte die Freiheit vom Arbeitsstreß gemeint sein, aber auch - siehe oben - die Freiheit von familiärer Bindung und Verantwortung. Totale Freiheit ist eine Illusion, das wissen wir alle. Max Planck hat in seinem Aufsatz "Zum Problem der Willensfreiheit" gezeigt, daß diese Illusion in Momenten der Entscheidung notwendig wird, weil sonst (mit dem ständigen Durchdenken des Für und Wider) das Handeln blockiert ist. Dies heißt nichts anderes, als daß für Augenblicke das Denken hinter dem Entschluß zurücktreten muß. Es entsteht eine Art Schwebezustand zwischen Denken und Intuition, der sich sofort auflöst, wenn der Entschluß gefaßt ist. Je mehr es nun zu entscheiden gibt, um so häufiger tritt der Schwebezustand auf, um so häufiger wird die Illusion der Freiheit benötigt und wächst sich zur Ideologie aus. Auch hier möge man mir glauben, daß ich weiß, wovon ich rede; denn beim Komponieren bin ich genau mit diesem Problem ständig konfrontiert. In mehr als 35 Jahren meiner Arbeit habe ich verstehen gelernt, daß die inneren Strukturen einer Persönlichkeit viel zu stabil sind, um sie mit einigen Willensakten durchbrechen zu können; daß man aber dennoch die Chance hat, sich zu verändern, wenn man bereit ist, lange Wege zu gehen, und zwar vor allem die in die eigene Vergangenheit. Darin lag ja auch der Sinn des Konjunktivs: Entscheidungsprozesse nachzuarbeiten, Weichen anders zu stellen, als es in der Vergangenheit geschehen war. Denn wie soll jemand den richtigen Weg finden, wenn er nicht bereit ist, zuvor zurückzufahren und unerwünschte Weichenstellungen zu korrigieren. Die sozialistische Losung "Fehler im Vorwärtsschreiten überwinden!" war ebenso unsinnig, wie es das jetzt um sich greifende (neo-)liberale Gerede von Entscheidungsfreudigkeit, Innovation usw. ist. Damit werden die Schienenwege nach rückwärts geradezu herausgerissen, weil die Erinnerung für praktisches Handeln immer bedeutungsloser wird. 1989 konnte ich noch sagen: "Hätte ich dem Chef (Betriebsleiter, Parteisekretär usw.) widersprochen, dann hätten andere sich angeschlossen, und wir hätten etwas verändert. Beim nächsten Mal will ich das unbedingt tun!" Nun, da keine vergleichbaren Chefs und für viele überhaupt keine Arbeitsverhältnisse mehr existieren, ist aus dieser Überlegung wenig zu gewinnen. "Freiheit des Denkens", das ist nicht nur ein Hohn für Leute, die es für ihr Leben nicht mehr gebrauchen können, es ist ein Widerspruch in sich: Die zum Dauerzustand erhobene Illusion der Freiheit setzt das Denken außer Kraft. Das sieht man auch an den Versuchen, einander ausschließende Argumentationen unter einen Hut zu bringen. Wenn die DDR tatsächlich nur ein System von Unterdrückung und geistiger Manipulation war, wie konnte man dann nach 40 Jahren ihren "Produkten", den unwissenden und desorientierten Bürgern freies Handeln und Wählen zugestehen? Umgekehrt, wenn es wirklich "das Volk" war, das sich mit friedlichen Mitteln die Freiheit erkämpfte, wie konnte es aus Leuten bestehen, die
40 Jahre lang nur Stillhalten und Mitmachen gelernt hatten?
Versagendes Denken, dem der Brückenschlag zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr gelingt. Geradezu gespenstisch, daß ich die Konjunktive der Zukunft bereits deutlich im Ohr habe: "Aber ihr hättet doch Energie sparen müssen! Ihr hättet doch nicht solche gefährlichen Technologien entwickeln dürfen! Ihr hättet doch eure Kinder nicht an Fernsehen und Videospiele gewöhnen dürfen! Ihr hättet rechtzeitig etwas gegen die Suchtkrankheiten unternehmen müssen! Ihr hättet nicht zulassen dürfen, daß bei Kultur und Kunst gespart wird! ......." Das zu sagen, wird dann allerdings genau so sinnlos sein wie die heutigen Konjunktive.
Viel interessanter ist eine Rückschau, wie frühere Kulturen mit unerwünschten Ereignissen fertig wurden, die man nicht hatte verhindern können. Bei den Juden hieß es: "Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gelobt." Ich ver-mute, daß diese Haltung für lange Zeit die "glückbringendste" gewesen ist. Die Menschen waren auf das orientiert, was sie selbst beeinflussen konnten, während das, was nicht in ihrer Macht stand, als solches akzeptiert wurde. Ich mache mir nicht den Glauben an einen unsichtbaren Gott und an den irgendwann die Welt erlösenden Messias zu eigen, halte ihn aber im Sinne der seelischen "Ökonomie" für hilfreicher als den späteren Glauben an das menschliche Gehirn. Den letzteren mit seiner Manie, die Natur zu korrigieren, und der permanenten Unzufriedenheit, die daraus erwächst, habe ich genügend beleuchtet. Die gegenteilige Haltung kann man als "Kunst des Geschehenlassens" bezeichnen. Sie war sicherlich die ursprüngliche Einstellung des Menschen zu Natur und Umwelt, und das jüdische Volk hat sie (im mitteleuropäischen Raum) länger als andere beibehalten - ein wesentlicher Grund für die Fremdheit unter anderen Völkern. Auch die Ausnahmestellung der Juden in manchen Bereichen der europäischen Musik erkläre ich mir aus solchem Einverstandensein mit dem Fließen der Zeit. Immer wieder gewannen die Juden genügend Kraft zum Durchhalten, allen Anfeindungen und Pogromen zum Trotz. Erst als sich Rassismus und technischer Fortschritt zur Massenvernichtung verbanden, wurde genau diese einstige Stärke zur todbringenden Schwäche. Der Vorwurf, die Juden "hätten sich nicht widerstandslos abschlachten lassen dürfen", ist so absurd wie viele andere nachträgliche Bewertungen, hatte doch auch hier so etwas wie eine kaum voraussehbare "Rochade", allerdings viel schrecklicherer Art, stattgefunden. Es ist den Nazis nicht nur gelungen, dieses "störende" Volk aus dem mitteleuropäischen Geistesleben herauszuschneiden, sondern auch, es nun selbst zu einer nahezu entgegengesetzten - wehrhaften - Haltung im eigenen Staat zu treiben, was natürlich zum Verlust der ursprünglichen Kräfte führen muss. Theodor W. Adornos Wort, man könne nach Auschwitz kein Gedicht mehr schreiben, ist zutreffend in dem Sinne, daß nichts mehr war wie vorher nach der Massenvernichtung der Juden, so wie nichts mehr war wie vorher nach den massenhaften Hexenverbrennungen oder nach den Entdeckungen anderer Kontinente. Niemals konnte auf den Trümmern des Alten etwas Besseres aufgebaut werden, denn der Aufbau begann stets ohne die Getöteten und mit Menschen, in denen etwas getötet worden war.
Das eigentliche Zeitproblem: der Fortschritt (4)
Es ist an der Zeit, den Text zu zitieren, der mich wie kein anderer zum Nachdenken gebracht hat und der sicher nicht zufällig von einem jüdischen Autor stammt, gestorben durch Freitod auf der Flucht vor den Faschisten.
"Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht von Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, währende der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm."
Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (IX)
Diesen Worten habe ich nichts hinzuzufügen außer der Forderung, sie zur Pflichtlektüre in allen Schulen zu machen.
Sparen und Fortschritt (1)
"Vor Tische las man's anders." Dieser Satz steht in Schillers "Wallenstein". Da ließ man vor dem Essen ein Papier kursieren, das nach dem Essen unterschrieben werden sollte. Die Zeit dazwischen nutzte man, um kleine Veränderungen einzuarbeiten, von denen man fürchtete, daß sie bei aufmerksamem Lesen nicht akzeptiert würden. Und die Rechnung ging auf: Wer die Veränderungen bei Tische überhaupt bemerkte, wollte in der eß- und trinkfreudigen Stimmung nicht als Spielverderber dastehen, unterdrückte seine Bedenken und unterschrieb.
Den DDR-Bürgern wurde der veränderte Text erst nach ihrer Unterschrift für die Vereinigung präsentiert, seitdem allerdings mit immer neuen Revisionen und Fußnoten. Von dem ersten Wahl-Betrug, in dessen Folge die Währung nicht 1:1 sondern 1:1/2 umgestellt wurde, war schon die Rede. Noch viel schlimmer erscheint es mir aber, daß jetzt überall, wohin man blickt, Einrichtungen unterhöhlt werden, die seit dem "Wirtschaftswunder" zum deutschen Kapitalismus gehörten und die unverzichtbar waren, wenn es darum ging, den DDR-Bürgern den Beitritt zur Bundesrepublik attraktiv zu machen. Nun, da das überflüssig geworden ist, erleben wir auf einmal, daß die Tarifverträge, die Krankenversicherungen, sogar die Renten in Frage gestellt werden. Dieselben Leute, die nicht müde wurden, uns die Vorzüge des "sozialen Netzes" usw. zu schildern, verlangen jetzt auf einmal die Einsicht, daß es nicht weitergehen könne wie bisher. Nun muß ich diesem Satz sogar zustimmen. Aber er ist keineswegs neu. Er stand am Anfang jeder Reform oder Revolution, auch jeder Diktatur. Die Frage ist nur: Was kann so nicht weitergehen? Wenn ich höre, daß an allen Ecken und Enden gespart werden soll, dann denke ich daran, daß der ständig steigende Verbrauch von Konsumgütern und der Energieverbrauch eingeschränkt werden muß. Aber merkwürdigerweise wird genau das nicht verlangt. Den Ostdeutschen beispielsweise wird nicht etwa gesagt: Gut, ihr konntet jetzt einige Jahre vieles nachholen, was euch früher nicht möglich war. Nun aber sorgt gemeinsam mit den Westdeutschen und den Menschen in aller Welt dafür, daß unsere Erde nicht noch weiter belastet wird und die Chancen fürs Überleben der folgenden Generationen nicht noch geringer werden. Das wäre dann ein Sparen, welches den Namen verdient; denn mit Sparen kann nur gemeint sein, daß tatsächlich weniger verbraucht wird, etwa nicht, daß man das Gewünschte an einer anderen, weniger auffälligen Stelle wegnimmt. Doch letzteres ist genau das, was geschieht.
Eigentlich müßte bereits auffallen, daß die Worte Sparen und Produktions-Wachstum im Gegensatz zueinander stehen. Um dies zu verschleiern, wird nun das Meisterstück in getrennter Betrachtung geliefert. Es gibt einfach zwei Bereiche, über deren wechselseitige Verbindung nicht gesprochen wird. Den einen Bereich bilden die öffentlichen Haushalte, die zwar kein Volkseigentum sind, aber so etwas wie eine unfreiwillige "Volks-Kollekte", eine Sammlung von Steuergeldern, um Aufgaben zu finanzieren, die für alle wichtig sind. Obwohl die öffentlichen Aufgaben immer mehr und immer komplizierter werden, wird in diesem Bereich fast nur noch von Sparen gesprochen. Gemeint ist damit aber nicht etwa, daß man mit gleichem Personal und gleichen Mitteln effektiver arbeiten will. Vielmehr sollen die Aufgaben teils eingeschränkt, teils abgegeben werden: an den anderen, den privaten Bereich. Vor dem Ruf nach Privatisierung müssten wir schon hinreichend gewarnt sein. Da er aber durch gebetsmühlenartige Wiederholung doch einen Anschein von Plausibilität bekommt, muß man genauer und vor allem konkreter beleuchten, was hier läuft. Wenn öffentliche Finanzierung durch private Finanzierung abgelöst wird, geht auch öffentliche Verantwortung in private Verantwortung über. Die Begründung, warum das geschehen soll, lautet vor allem: Der Staat neige zur Verschwendung. Diese - vermutlich nicht völlig falsche - Feststellung ist jedoch nur deshalb belegbar, weil es in diesem Bereich eine öffentliche Kontrolle gibt, im privaten Sektor dagegen nicht. Aber man braucht gar nicht in dessen geheime Archive einzudringen, um Verschwendungen großen Ausmaßes zu finden. Ist es etwa keine Verschwendung, wenn Unternehmen eingerichtet werden, zusammenbrechen, an gleicher Stelle neue Unternehmen entstehen, wieder zusammenbrechen usw.? Ist es keine Verschwendung, wenn Werbung wie Fischlaich überall ausgestreut wird mit einer Erfolgswahrscheinlichkeit von weniger als 1:1000? Und ist nicht das Wirtschafts-Wachstum selbst die allergrößte Verschwendung? Wenn in diesem Bereich von Sparen die Rede ist, dann nur zu dem Zweck, noch weiter zu expandieren und also noch weiter zu verschwenden. Ein Zwang zu solcher Verschwendung schlägt auch auf den Staat zurück, weil er genötigt wird, in moderner Ausstattung mit dem privaten Sektor zu konkurrieren oder - das Handtuch zu werfen und noch mehr an ihn abzugeben. Die Kosten, die durch den Modernisierungsdruck entstehen, übertreffen mit Sicherheit die Folgekosten des Schlendrians. So erweist sich der "Spar-Zwang" als direkte Folge des Fortschritts. Damit wird der Staat nicht schlank, sondern zum Skelett, ab- und aufgefressen vom Privateigentum. Schadenfreude ist nicht angebracht, denn von seinem Absterben ist nur eine Verschlimmerung der ohnehin angespannten Situation zu erwarten.
Was gefressen wird, ist ja nicht das Geld; denn dieses ist nur eine abstrakte Größe, die für materielle Ressourcen und menschliche Lebenskräfte steht. Diese sind auf der Erde endlich. Es finden sich lange Zeit noch immer Reserven, von denen man zehren kann, doch irgendwann sind sie erschöpft. Irgendwann muß man, wenn man ständig neue Bauwerke errichten will, das Baumaterial aus dem früher Gebauten herausholen. Irgendwann muß man, wenn man menschliche Lebenskräfte für immer neue Unternehmungen braucht, die alten Unternehmungen mit weniger Lebenskräften betreiben. Geht nun die Entwicklung nach allgemeiner Ansicht "vom Niederen zum Höheren", so stelle man sich einen im Laufe der Jahrhunderte gebauten riesigen Turm vor. Will man diesen - vielleicht ist es sogar der biblische Turm zu Babel - noch höher bauen, dann kann man das benötigte Baumaterial nur von weiter unten nehmen, von den Teilen also, die die oberen zu tragen hätten. Das sogenannte Wachstum ist von einem bestimmten Zeitpunkt an nichts weiter als eine Umverteilung von unten nach oben, allerdings in anderem Sinn, als dieser Ausdruck gegenwärtig gebraucht wird. Der mit der gebräuchlichen Bedeutung verbundene - berechtigte! - Vorwurf, daß den unteren Gesellschaftsschichten momentan noch mehr genommen und den oberen noch mehr gegeben wird, mündet nämlich im allgemeinen in die Forderung, den Unteren auch mehr (statt: den Oberen auch weniger) zu geben. Damit wird aber das Höher-Bauen des Turmes verlangt, statt es zu verhindern oder wenigstens zu bremsen. Es ist genau der gleiche Vorgang wie das Drängen der bislang unterprivilegierten "2. Welt" an den Tisch der "1. Welt": Ein so verstandener Verteilungskampf fördert paradoxerweise jene Umverteilung von unten nach oben, von der ich hier spreche. Es gibt ein Spiel mit Bausteinen, bei dem man - länger als vermutet! - immer wieder Steine von unten wegnehmen und oben aufsetzen kann. Aber auch der Geschickteste kommt schließlich zu dem Punkt, wo der Turm zusammenfällt, und zwar mit einer Plötzlichkeit und Vollständigkeit, die erschreckt und überrascht, obwohl man mit der Möglichkeit des Zusammenbrechens schon viel früher rechnen mußte. Wir sollten also gewarnt sein und genau nachsehen, woher der Baustein genommen ist, der irgendwo weit oben draufgesetzt wird. Nehmen wir noch einmal die Werbung: Tonnenweise bringt man mit dummen Sprüchen bedrucktes Papier unter die Leute, ohne daß jemand ernsthaft fordert, dies einzuschränken. Zugleich werden den öffentlichen Bibliotheken die Mittel so weit gekürzt, daß sie nicht einmal die allerwichtigsten Bücher aus der Fülle der Neuerscheinungen mehr erwerben können (ein Mangel, der zwar nicht formal, aber praktisch die Informationsfreiheit einschränkt). Dank getrennter Betrachtung kann behauptet werden, daß die Werbung mit den Bibliotheken nichts zu tun habe. So steht die Teilung in einen privaten und einen öffentlichen Bereich dem einzig vernünftigen Gedanken im Wege, daß man Papier statt mit ökonomisch gefordertem Schwachsinn doch lieber mit literarischen und wissenschaftlichen Werken bedruckt - oder es ganz einspart. Bleibt schon die Durchsetzung solch einfacher Vernunft systemfremde Illusion, so gilt das erst recht für (pfui, wie altmodisch!) Gefühle.
Ende Teil 2
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