Mit dem Sozialismus . . . Teil 3

Der Text »Mit dem Sozialismus vor dem Abgrund - Jetzt einen Schritt weiter« erschien in einmaliger Auflage 2005 bei der »brevis musikoffizin«.
Er wurde nach dem Manuskript von Hermann Keller von Steffen Schellhase gesetzt und grafisch gestaltet und ist auf Anfrage als gedrucktes Exemplar lieferbar. Bei Interesse wenden Sie sich bitte an: scriptorium@brevis-musikoffizin.de 

 

 

Mit dem Sozialismus vor dem Abgrund – Jetzt einen Schritt weiter

 

Teil 3 



Inhalt


Angelus Novus

Paul Klee, 1920
Aquarellierte Zeichnung, 31,8 cm × 24,2 cm
Israel-Museum, Jerusalem
Beobachtung 1   
Beobachtung 2   
Beobachtung 3
Beobachtung 4   
Zeitproblem 1   
Zeitproblem 2
Beobachtung 5   
Beobachtung 6   
Zeitproblem 3
Das eigentliche Zeitproblem: der Fortschritt (1)   
Beobachtung 7   
Das eigentliche Zeitproblem: der Fortschritt (2)   
Beobachtung 8   
Das eigentliche Zeitproblem: der Fortschritt (3)   
Beobachtung 9 
Beobachtung 10   
Sozialismus und Fortschritt   
Eigentum und Fortschritt   
Demokratie und Fortschritt (1)
Beobachtung 11   
Demokratie und Fortschritt (2)   
Beobachtung 12   
Ein weiteres Zeitproblem: der Konjunktiv   
Das eigentliche Zeitproblem: der Fortschritt (4)   
Sparen und Fortschritt (1)
Beobachtung 13   
Musik und Fortschritt   
Sparen und Fortschritt (2)   
Das antiökonomische Manifest 









Beobachtung 13

Kaum eine Redewendung wurde in den politischen Diskussionen der Jahre 1989/90 so häufig verwendet wie die, man müsse nun "ohne Emotionen" dies oder jenes besprechen, in Angriff nehmen usw. Sicher, wer Lust für nebensächlich hält, kann vom Gefühl keine hohe Meinung haben. Aber wie ist es möglich, daß eine so offenkundig unsinnige Redewendung so große Verbreitung und Akzeptanz erhielt? "Vor Tische" war doch einer der wesentlichen Kritikpunkte am Marxismus, daß er das Seelenleben der Menschen nicht genügend berücksichtige, weshalb viele Kritiker (angeregt durch Herbert Marcuse) Marx durch Freud ergänzen und korrigieren wollten. Fand sich jetzt niemand, der im Namen von Freud klarstellte, daß ein Mensch seinen Gefühlen nicht entfliehen kann, auch wenn er sie zu unterdrücken, klein zu halten oder mittels eines Begriffes wie "Emotionen" abzuwerten versucht? Fand sich - außer Mahnern wie Bahro oder Maaz - kein verantwortlicher Politiker, der von Freud gelernt hatte, die Gefühle für wichtiger zu erklären als Wohlstand und Geld? Um Mißverständnissen vorzubeugen: Unter Gefühl soll nicht der mühsame Versuch verstanden werden, durch Rührseligkeit (wie in Schlagern und Familienserien) oder durch Gewalt und Angst (wie in Action- und Horrorfilmen) ein Tröpfchen von demselben auszupressen. Das bißchen Gefühl, das so freigesetzt wird, hält nur sehr kurze Zeit vor, und die Ernüchterung danach ist (wie nach dem Gebrauch von Drogen) um so größer. Leider führt eine solch reduzierte Erfahrung von Gefühl dazu, auch bei anderen Menschen nur die kurzzeitigen Gefühlsaufwallungen wahrzunehmen, während das eigentlich Natürliche: der stetige Gefühlsaustausch durch Gesten, Blicke, Worte, Laute immer weniger stattfindet und noch weniger bewußt wird. So muß man vermutlich den Versuch unternehmen, etwas Grundlegendes, in der Erfahrung Gegebenes mit Worten zu erklären. Ich verstehe unter Gefühl ein möglichst umfassendes Bewußtsein von Körper und Geist (Geist und Körper), welches zutiefst davon abhängig ist, daß die Ströme von Energien und Stoffen durch den Organismus nicht blockiert, die zeitlichen Abläufe also nicht gebremst sind. Jede Erfahrung und Erinnerung steht dann zur Verfügung, wenn sie benötigt wird, und blitzschnell ausgelöst wird nicht nur die entsprechende Gedankenarbeit, sondern vor allem der erforderliche körperliche Gesamtzustand (je nachdem stärkere oder schwächere Durchblutung, Erwärmung, Erregung, Atmung, Transpiration usw.). Was ich beschreibe, läßt sich besonders gut beim Musizieren beobachten, sollte aber eigentlich bei allen Lebensvorgängen geschehen und geschieht tatsächlich (selten genug!), wenn diese natürlich verlaufen. Starke Gefühle wurzeln im selbstverständlichen Fließen der Zeit, unterdrückte Gefühle im gestörten Verhältnis zur Zeit. Nach allem schon Gesagten ist verständlich, warum Fühlen für unwichtig erklärt wird, während man die Intensität seines plötzlichen Ausbrechens zunächst überschätzt, die Bedeutung von Gefühlsausbrüchen dann aber wieder herunterspielt. Im Herbst 1989 konnte man das gut sehen. Der berechtigte Zorn von Millionen war in Jahren oder gar Jahrzehnten zurückgestautes Gefühl, das innerhalb kurzer Zeit hervortrat und deshalb besonders stark erschien. Dieser Vorgang ähnelte merkwürdig der Art und Weise, wie unsere Kultur auch sonst alles Natürliche in uns einzudämmen versucht und die Schleusen nur zu besonderen Gelegenheiten öffnet oder - wenn sie selbst das versäumt - einen Dammbruch riskiert. So wie der Dammbruch selbst aber noch nicht die Befreiung sein kann, weil die Menschen ja mit ihren Fesseln durchbrechen, so entsteht nur scheinbar ein besonders starkes Erlebnis, wenn nach langem Verzicht die Befriedigung eines Bedürfnisses möglich wird. Gleichgültig ob der Verzicht erzwungen oder selbst auferlegt war, die Stärke des Erlebnisses mißt sich dann nicht an der Fülle möglichen Lebens, sondern an der Leere des Wartens. "Wahre Liebe wartet", der Slogan der aus den USA kommenden Bewegung für "Reinheit" vor der Ehe läßt ahnen, welch armselig kleine innere Bewegungen dann für große Liebe gehalten werden. Doch so etwas ist nur die Spitze des Eisbergs. Tief in unser aller Leben greift diese Enthaltsamkeits-Ideologie ein. Jede Belohnung erscheint um so höher, je größer der vorangegangene Verzicht war, vor allem je länger er dauerte. "Saure Wochen, frohe Feste", heißt es bei Goethe. Unser ganzes System von Zensuren, Titeln, Verdienstkreuzen am Bande usw. ist von diesem Freude-Aufsparen durchzogen; denn für eine Tätigkeit, die durch sich selbst erfreut, braucht man nicht extra belohnt zu werden. Das Sparen angenehmer Gefühle für besondere Gelegenheiten ist nichts als ein Trick, der die Illusion ermöglicht, wir hätten viel davon. Damit werden aber auch die unangenehmen Gefühle unterdrückt; denn sie sind ja dafür da, auf schnelle Veränderungen zu drängen. Für jedes längere Durchhalten muß man sich unempfindlich machen: die Körperfunktionen einschränken, die geistige Rückmeldung darüber ins Unbewußte abdrängen. Bleibt dies innerhalb eines gesamten Menschenlebens die Ausnahme, dann läßt sich der vorherige wache, aufnahmebereite Zustand bald wieder herstellen. Dagegen weiß ich durch meinen 1 1/2 jährigen Armee-Dienst, wie schwer sich bereits eine solche Zeit reduzierten Lebens anschließend wieder wettmachen läßt. Dauert diese noch länger (und beruht zudem das "normale" Leben schon auf einer Tradition des Verzichts), dann ist eine bleibende Unempfindlichkeit - die Psychologen nennen es Panzerung - gar nicht zu vermeiden.

Es lohnt sich auch hier ein Blick darauf, wie eine frühere Kultur mit diesem Problem umging. Angenommen, ein langer Weg sollte gegangen werden in ein "Land, wo Milch und Honig fließt." Führer haben sich angeboten (oder sind auch zum Führen gedrängt worden?). Nun dauert der Marsch bereits viel länger als erwartet, und es mehren sich die - scheinbaren oder wirklichen - Anzeichen dafür, daß er nicht zum Ziel führt. Jetzt weiter durchzuhalten, die Gefühle noch weiter zurückzudrängen auf die Gefahr hin, daß man sie niemals wiedergewinnt, ist nicht Zeichen von Stärke, sondern von bereits mitgebrachter Langzeit-Unempfindlichkeit. Was aber war die Alternative für starke Menschen, in denen der Zorn auf den (die) Führer übermächtig wurde? Die Führer konnten gesteinigt werden. Was für eine Barbarei, was für eine primitive Gewalt, nicht wahr? Aber auch dies zu sagen heißt wieder, den Splitter im Auge des Nachbarn, aber nicht den Balken im eigenen Auge zu sehen. Denn die perfektionierte Gewalt, die inzwischen auch mitten im Frieden zum Alltag gehört (als blutiger Ernst in manchen Städten der USA, als "Spaß" im Fernsehen oder auf den Kinderspielplätzen (auf Ostberlins Spielplätzen - für die übrige DDR kann ich es nicht beurteilen - war Kriegsspielzeug bis weit in die 80er Jahre hinein fast undenkbar), kann doch nicht wirklich für besser gelten als primitive Gewalt, die äußerstes Mittel in einer Ausnahmesituation ist. Der Steinewerfer muß treffen können und Kraft haben. Er stellt sich selbst auf die Probe, ob sein Zorn dafür groß genug ist. Denn er kann hundertmal denken: "Der Führer hat den Tod verdient" - erst Auge in Auge erweist sich, ob er ihn auch herbeiführt oder ob sein Zorn vielleicht gebremst wird durch andere Gefühle: durch Ehrfurcht vor dem Leben allgemein; durch den Zorn auf sich selbst, weil er nichts beigetragen hat zum Finden eines besseren Weges; durch das Gefühl einer gewissen Solidarität mit den (Ver-)Führern, die er auf der gemeinsamen Wegstrecke immerhin besser kennenlernte und von denen er sich eben auch führen ließ. Hinzu kommt, daß ein von Steinigung Bedrohter sich gegen die ersten Würfe immer noch abschirmen konnte und die Wut dann möglicherweise bereits "verraucht" war. Erst ein wirklich starker, immer noch wachsender kollektiver Zorn konnte die Steinigung vollenden. Moses entging ihr nach biblischer Überlieferung (4. Buch Mose, Kapitel 14, Vers 10) durch Gottes Eingreifen, was in weltlicher Übersetzung heißen kann: Die Vorstellung, nach Ägypten zurückzukehren und sich Pharao zu unterwerfen, erschien letztlich doch abschreckender als die Entbehrungen auf der Flucht. Von wem das Übel ausgegangen war, blieb hier wenigstens noch in Erinnerung. Dagegen mußten, seit Sigmund Freud mit seiner Psychoanalyse begann, die Behandelten immer wieder feststellen, daß sie nicht gewußt hatten, gegen wen ihre überstarke Wut sich richtete. Sie glaubten, den Adressaten in der Gegenwart zu sehen, während er tief in ihrer Vergangenheit zu finden war. Oft ist es sogar nötig, in die Zeit vor der Geburt zurückzuschauen, um den Zusammenhang der eigenen Gefühle mit der Kultur zu verstehen, durch die eine Gruppe oder die ganze Region geprägt ist, der man angehört. Wer eine solche Gefühls-Klarheit bereits gewonnen hat, der wird wissen, mit welchen Schwierigkeiten schon die Vorfahren zu kämpfen hatten und wie sich dies auf die Mitmenschen der Gegenwart übertragen hat. Er wird den Stein nicht aufheben und auch nicht zum Gewehr greifen. Er wird aber auch keine Bestrafung fordern; denn er fühlt, daß es ihm selbst um nichts besser geht, wenn ein anderer leidet. Im Gegenteil, die Strafe für den (vermeintlich) Schuldigen löst die Wut nicht auf, die man dann auf Umwegen anderen Subjekten oder Objekten zuschiebt, im Extremfall gegen sich selbst richtet. Der ursprüngliche Sinn der Gefühle ist es ja gerade, Handlungen auszulösen. Wenn letztere zurückgehalten (und durch symbolhafte gesellschaftliche Ersatzhandlungen wie Bestrafen oder Abwählen ersetzt) werden, geschieht das zwar nicht "ohne Emotionen", aber - mit zumindest teilweise - unterdrückten Gefühlen, deren Ausbruch in eine zufällige oder von fremden Interessen bestimmte Richtung man beständig fürchten muß. Bestürzende Beispiele aus den letzten Jahren gibt es genug.

Für das Gebiet der DDR gilt selbstverständlich, daß auch vor 1989 viele Anzeichen für Gefühlsstau und daraus resultierende (primitive oder subtile) Gewalt vorhanden waren. Nicht zuletzt die Stasi schöpfte ja dieses Potential ab. Die Wende-Zeit trug so gut wie nichts zu einer Klärung bei, welche Aggressionen tatsächlich von Partei und Regierung hervorgerufen wurden und welche aus ganz anderen Quellen kamen. Wie denn auch, wenn man "Emotionen" gar nicht zulassen wollte? Seitdem aber hat die Tendenz zugenommen, sich an unschuldigen, oft sogar völlig unbekannten Menschen abzureagieren. Der ständig wiederholte Satz, jetzt werde nur sichtbar, was vorher verdeckt war, ignoriert die Totalität des Umschwunges und erklärt auch nicht, warum ausgerechnet die Jugendlichen, die kaum mehr als die Hälfte ihrer Lebenszeit noch in der DDR verbracht haben, so große Probleme bereiten und nicht die Menschen, die ganz überwiegend durch die DDR-Zeit geprägt sind. Was hier erschwerend hinzugekommen ist. soll ein Blick auf die "Jugendkultur" zeigen, wozu ich mir erlaube, von meinem Arbeitsgebiet, der Musik, auszugehen und etwas weiter auszuholen.



Musik und Fortschritt

Wenn ich mich erinnere, wie ich in früher Kindheit Musik erlebte, dann steht ein merkwürdiges Bild vor mir. Ich dachte mir nämlich, Radiomusik hörend, pendelartige Maschinen und glaubte, daß von diesen die Musik gemacht werde. Als ich etwas später zum ersten Mal in einem Orchesterkonzert saß, war ich sehr erstaunt, daß fast die gleiche Musik auf ganz andere Weise entstand, vor allem daß sie von Menschen gemacht wurde. Nun stamme ich von musikalischen Leuten ab (mein Großvater und mein Vater waren Musiklehrer) und hatte häusliches Musizieren sehr wohl gehört, nur eben noch kein Orchester. Daß ich Radiomusik vor der lebendigen Musik (das Surrogat vor dem Original) erlebt habe, kann ich also gar nicht uneingeschränkt sagen. Zudem stelle man sich einen geradezu vorsintflutlichen Radioapparat vor, dessen Kratzen eigentlich gar keine Illusion aufkommen ließ. Fernsehen gab es zu dieser Zeit noch nicht, und eben in diesen Jahren erst trat die elektronische Musik aus ihrem Anfangsstadium heraus. Trotzdem entstand schon für mich das fundamentale Mißverständnis darüber, was ursprünglich (natürlich) und was abgeleitet (künstlich) ist. In welchem Maße sich dieses Mißverständnis in weniger als 50 Jahren ausgeweitet hat, zeigt vielleicht die Überschrift eines Artikels in einem Berliner Anzeigenblatt:




Um das ganze Ausmaß dieses Unsinns zu zeigen, muß ich noch einige Schritte zurückgehen und fragen, welche Stellung die Musik ursprünglich im Leben der Menschen hatte. Man wird wohl sagen können: eine so selbstverständliche, daß sie kaum der Hervorhebung bedurfte. Sie gehörte dazu wie Essen, Trinken oder Lieben, und zwar für alle Menschen als eigene Tätigkeit. Es gab kein Publikum (damit war es auch undenkbar, Musik als "Dienstleistung" zu betrachten, für die man Geld bezahlt; noch im alten Griechenland bekam der Theaterbesucher seinen Obolus, statt ihn zu geben und bis ins vergangene Jahrhundert hinein bezahlte man nicht den Vortrag eines Volkssängers oder -Erzählers, sondern sorgte durch Einladungen und Spenden dafür, daß er leben konnte), und wenn sich ein solches später entwickelte, dann blieb es immer noch eine Gruppe von Menschen, deren musikalische Fähigkeiten, wenn überhaupt, nur graduell geringer waren als die der Vortragenden. An diesem Verhältnis etwas zu ändern, ist auch eine europäische "Errungenschaft": in der Musik ein Spezialistentum zu entwickeln, wobei die Frage ist, ob die Spezialisten um so viel qualifizierter sind, oder ob sie nur annähernd den ursprünglichen Stand halten und die anderen ihre Fähigkeiten weit weniger entwickeln. Daß nur letzteres der Fall sein kann, zeigt die Musikgeschichte. Was Musik einmal war, kann ich nicht besser als mit Marx beschreiben: "freie Kraftentwicklung, die sich als Selbstzweck gilt." (Allerdings meinte Marx damit die gesamte menschliche Tätigkeit in einer kommunistischen Gesellschaft und gab als Beispiel das bereits höchst spezialisierte Komponieren an.) Dabei stellten sich die Menschen sogar besonders schwere Aufgaben wie stundenlanges Trommeln oder anstrengendes Blasen - und das alles ohne Aussicht auf irgendeine Form von Belohnung. Musik war eine Tätigkeit, die Körper und Geist (damit auch Gefühl) gleichermaßen trainierte, darum Freude machte und keiner weiteren Bestätigung bedurfte.

Die Rolle der Musik im menschlichen Leben wurde einschneidend verändert durch eine erste Privatisierung: die Möglichkeit, musizierende Menschen zu Sklaven oder Hof- (und Kirchen-)Musikern zu machen. Für mich wird hier besonders deutlich, daß die Privati-sierung eine Enteignung der Gemeinschaft war. Kontinuierlich zog man die besten Musikanten von der Musik ab, die von allen gespielt (oder wenigstens noch gehört) wurde. Kein Wunder, daß die Volksmusik, von den Herrschenden zunächst schlechtgeredet und unterwandert, schließlich dem elendesten Kitsch ihren Namen leihen konnte. Wer auf der anderen Seite nicht mehr für sich, sondern für andere Musik macht, wird sich die Arbeit zu erleichtern versuchen. Mit der Orgel konnte das sehr wirksam geschehen, weil sie blasende Menschen durch den Blasebalg ersetzte. Es brachte zugleich (schon damals!) einen großartigen Spar-Effekt: Wirkliche Mehrstimmigkeit, die ja mehrere Menschen verlangt, wurde ersetzt durch symbolische Mehrstimmigkeit, bei der mehrere Tasten von einem Menschen bedient werden können. Auf den verschiedenen Tasteninstrumenten weiterent-wickelt, erschien diese Methode als bestrickende Zauberei ("Man müßte Klavier spielen können..."). Da die Entfernung von den Wurzeln aber bereits groß war, ging trotz wunderbarer Leistungen im einzelnen das Gefühl für menschliche Grundbedürfnisse in der Musik immer mehr verloren. Nur das kann den Eifer erklären, mit dem sich die Menschen jener Veränderung bedienten, welche in unserem Jahrhundert die Musik noch tiefer als andere Künste verändern mußte: der scheinbaren Möglichkeit, Zeit festzuhalten.

"Was? Ach so, Tonband, Plattenspieler, CD? Ist doch nichts Besonderes." "Aber wunderbar, wenn man die tollsten Sachen jederzeit hören kann!" "Hat doch jeder heutzutage..." Eben darin besteht das Problem, und zwar ein mehrfaches. Zum ersten "erspart" die Wieder-holbarkeit noch mehr von jener lustvollen Anstrengung, die gerade der Sinn der Sache war. Im Extremfall kann man einmal eine gute Aufnahme machen und sich tage-, wochen-, jahrelang darauf ausruhen. Gewiß, auch das Anhören ist ein Nacherleben, das Geist und Körper beansprucht. Doch selbst hier kann "geholfen" werden: Man stellt sich seine eigene CD stolz ins Regal, sie ist ja fertig, Besitz, sogar Ware. Man hat viel mehr damit zu tun, für sich zu werben, als regelmäßig weiter zu musizieren. Warum Fausts letzte Worte noch ernst nehmen?

    "Nur der erwirbt sich Freiheit wie das Leben,
     Der täglich sie erobern muß."

Vielleicht ist dieser Satz nicht "der Weisheit letzter Schluß", wie es bei Goethe heißt; aber er ist eine der tiefsten Wahrheiten, ein Lebensgesetz. Gegen dieses wird massenhaft und immer noch zunehmend verstoßen.

Zum zweiten wird nun nicht mehr so musiziert (gesprochen, getanzt usw.), wie es für den Moment angemessen ist: der persönlichen Situation, der aktuellen Stimmung, dem Verhältnis zu den Mitspielern entsprechend, sondern es wird darauf spekuliert, wie die Aufnahme gehört und beurteilt werden könnte. (Der Konjunktiv zeigt wieder die Abwertung der Gegenwart zugunsten der Zukunft, welche besonders verhängnisvoll wird, wenn sich die Musik nicht aus den BSE-strebungen der Spieler, sondern nur noch aus ebendiesen Konjunktiven zusammensetzt: Dies könnte mißfallen, jenes könnte den "Durchbruch" bringen usw.) Der Musiker ist schließlich für die Aufnahme da, statt daß die Aufnahme für ihn da ist. Anfänglich wollten wir ja nur unserer Erinnerung ein wenig nachhelfen und morgen genau wissen, was wir heute gespielt haben. Das schien allerdings nur deshalb sinnvoll und berechtigt, weil sich mit dem Nachlassen von Kraft und Gefühl auch das Erinnerungsvermögen historisch reduziert hat. (Es gibt zu denken, daß die Kinder beim Memory-Spiel fast immer gegen die Erwachsenen gewinnen. Vermutlich macht jeder Mensch in seinem Leben den historischen Prozeß noch einmal durch.) Wir speichern bekanntlich viel mehr in unserem Gehirn, als uns bewußt ist. Es steht uns auch zur Verfügung, wenn wir es brauchen und wenn wir in diesem Moment den Zugang nicht blockieren. Musizieren ist gerade eine der besten Möglichkeiten, die Durchlässigkeit für Erinnerungen wiederzugewinnen. Statt dieses Training zu wagen, bedient sich die Menschheit einer stets wachsenden Armee von Erinnerungs-Maschinen, und mit fortschreitender Technik bedient die Menschheit diese Armee. Schon wenn ich selbst heute so spiele, wie ich glaube, daß es mir morgen gefällt, ohne meinen heutigen Gefühlen zu vertrauen (und morgen einfach wieder, wahrscheinlich anders, zu spielen), entmündige ich die Gegenwart. Erst recht natürlich, wenn ich mir heute vorstellen will, wie andere (oft sogar völlig unbekannte) Menschen morgen auf meine Musik reagieren könnten. (Ich wiederhole den Hinweis darauf, daß bei noch weiterer Beschleunigung alles umkippt; denn dann ist morgen schon etwas völlig anderes modern, als ich mir heute vorstellen kann.)

Zum dritten gebiert die Möglichkeit, gespielte Musik nicht nur einfach aufzuzeichnen, sondern sie mit technischen Tricks aufzuputzen, sie von wirklichen oder vermeintlichen Fehlern zu reinigen, kurz, sie verkaufsgerecht zu machen, noch zusätzlich ein Heer von Menschen, die selbst keinen Ton Musik mehr hervorbringen, sondern lediglich mit deren Aufbereitung und Distribution beschäftigt sind. Während aber das einfache Abschreiben von Noten i.a. schon ein Verständnis des Tonsystems voraussetzt, kann man (nicht gute, aber mittelmäßige) Aufnahmen machen, ohne das mindeste von der Musik zu kapieren. Genauso kann man Ereignisse auf Videos festhalten, ohne zu verstehen, was eigentlich vorgeht, während eine versuchte Beschreibung in Worten dieses Unverständnis sogleich aufdeckt. Durch die Aufnahmetechnik wird die Weiterverarbeitung des Nichtbegriffenen zur Normalität, und die musikverbreitenden Nicht-Musiker erdrücken mit ihrer Überzahl die musizierfreudigen Menschen, ohne die es Musik gar nicht gibt.

Noch nicht. Denn wenn es ohnehin nur darum geht, was morgen gehört werden könnte, dann brauche ich heute gar nicht zu musizieren. Ich kann mir - zum vierten - die Musik einfach zusammenschneiden. Ich kann über alles, was in den Archiven oder im eigenen Studio liegt, verfügen; jeden Höhepunkt mit jedem anderen kombinieren; aus kleinsten Schnipseln ein innovatives Produkt verfertigen. Dann denke ich: Ich habe alles, und wenn der Strom ausfällt, habe ich nichts. Ich denke: Ich bin der Schöpfer, und wenn der Strom ausfällt, bin ich weniger als jede Mutter, die ihr Kind in den Schlaf singt. Zum fünften sind nicht nur einzelne elektronische Klänge, sondern ganze Klang-Verläufe speicher- und abrufbar. Während schon ein einzelner gesungener oder geblasener Ton den vollen Einsatz des Gefühls erfordert, kann man nun ganze Klang-Eruptionen tatsächlich "ohne Emotionen", per Knopfdruck erzeugen.

Damit ist der allerletzte Schritt getan, um der Musik ihren Inhalt auszutreiben. Was sie überhaupt erst lustvoll und lebenswichtig machte, das Durchtrainieren des Menschen in seiner körperlich-geistigen Ganzheit, wird durch technische Handlungen ersetzt; ihr tiefster Sinn wird der Musik unterm Hintern weggezogen, ein Schildbürgerstreich, der nur noch dadurch übertroffen werden könnte, daß man zu den Olympischen Spielen Roboter antreten ließe. Folgerichtig, daß nun die (Stopp-)Uhr regiert und die Zeit mit geradezu krimineller Energie vergewaltigt wird. Dies geschieht auf zwei gegensätzliche Weisen, die beide gleich verhängnisvoll sind. Einerseits werden aus dem Pulsieren der Musik, das natürlicherweise geringen Schwankungen unterworfen ist, mechanische Schläge in genau gleichen (tatsächlich mit der Uhr gemessenen) Abständen. Andererseits wird die so geschaffene erstarrte Zeit (in Ton und Bild) allen möglichen Manipulationen unterworfen. Sie läuft schneller, langsamer, rückwärts, wird zerstückelt, "perforiert"... Alles ist möglich, nur eins nicht mehr: ein Zeitgefühl, das aus dem Einverständnis mit der Natur hervorgeht.

Was soeben beschrieben wurde, verläuft zugleich nach dem Prinzip: bei den Fundamenten wegnehmen, oben draufsetzen. Wir ahnen schon, daß es damit noch längst nicht sein Bewenden hat. Eine weitere Entwicklung besteht darin, daß Musik immer weniger als selbständige Kunst behandelt, sondern zunehmend durch andere, später entstandene Kunstformen in Dienst genommen wird. Diese Vereinnahmung steigert sich von der Oper bis zur Film- und Fernsehmusik und erreicht ihren Höhepunkt schon jenseits der Kunst, besonders bei der schamlosen, jede ästhetische Verantwortung beiseite schiebenden Ausbeutung der Musik in der Werbung. Alles, was Musik ursprünglich - und auch das, was sie noch bis in dieses Jahrhundert hinein - auszeichnete, ist unwichtig geworden und verschwindet hinter ihrer Signal-Funktion für bestimmte Konsum-Artikel. Zudem erfolgt der fließende Übergang in eine weitere Spielart des Umschichtens von unten nach oben. Es wird nämlich zunehmend nicht nur die Musik, sondern die Kunst überhaupt in den Dienst der Werbung gestellt. Oftmals kann man schon nicht mehr unterscheiden, ob da gerade ein Filmausschnitt oder ein Werbespot gezeigt wird. Musik, Tanz, Schauspiel, Graphik, Malerei, Fotographie, alles wird aufgesogen von der Werbung und natürlich von ihr auch entwertet. Da man ja weiß, daß in dieser Branche nichts geschieht ohne eiskalte Kalkulation und absolut eigennützige Absicht, verlernt man allmählich zu glauben, daß es in der Kunst anders sein kann. Die äußeren Ähnlichkeiten sind so groß geworden, daß man beginnt, auf innere Ähnlichkeiten zu schließen, und wenn das genügend Menschen tun, wirkt es gleichsam als Boykott der unabhängigen Kunst. Diese ist nur lebensfähig, solange die Künstler nach bestem Wissen und Gewissen ihre (innere) Wahrheit darstellen und die Allgemeinheit nicht von vorneherein daran zweifelt. Wird dieser Vertrauensvorschuß an die Wirtschaft verkauft, ist jeder Künstler davon betroffen. (Und wie hat man sich darüber aufgeregt, daß im Osten Kunst für politische Propaganda benutzt wurde!)

Es wird bei dieser Betrachtung also ganz deutlich, daß eine Umverteilung großen Stils stattfindet. Der "künstlerischen" Werbung, wie ich das mit deutlicher Distanzierung nennen will, tritt eine "werbende Kunst" zur Seite, welche die Selbstvermarktungszwänge akzeptiert, damit aber vielen Künstlern die letzten Ideale austreibt. Insbesondere ein Kampf gegen langanhaltende Widerstände, gegen verbreitete Vorurteile oder Verhaltensweisen wird fast unmöglich. Wenn derart viel Material, Zeit und menschliche Kraft in "künstlerische" Werbung und "werbende Kunst" gesteckt werden, dann bleibt schon rein quantitativ kaum noch etwas übrig, um dem ursprünglichen Sinn beispielsweise der Musik treu zu bleiben - ganz abgesehen von dem Unverständnis, mit dem solch altmodisches Gebaren betrachtet wird.

Diese Überlegung führt zurück zur sogenannten Jugendkultur. Daß es sich hier überwiegend um eine raffinierte Strategie handelt, den Leuten über die Begehrlichkeit ihrer Kinder das Geld aus der Tasche zu ziehen, wird kaum bestritten werden. Viel fataler noch ist es indessen, daß mit der Entwertung künstlerischer Fähigkeiten und Erlebnisse auch eine nie dagewesene Entwertung von Erfahrungen vor sich geht, die natürlicherweise die ältere Generation der jüngeren voraus hat. Weitaus stärker, als es der "antiautoritären Erziehung" je passieren konnte, haben die Medien Kinder und Jugendliche in die Lage gebracht, das notwendige Aufnehmen dieser Erfahrungen zu umgehen. Seit jeher war es so, daß sie von Mensch zu Mensch weitergegeben wurden und nicht auf dem Umweg über Radio, Computer usw. Erst durch letztere entsteht überhaupt die Fragestellung, ob das Kind hören und sehen darf, "was es will". Bei persönlicher Begegnung nämlich trifft die oder der Jüngere zunächst einmal auf den Willen von Älteren. Gerade ein Kind mit einfachem, unverstellten Verhalten hat beste Möglichkeiten, diesen Willen der Älteren zu beeinflussen, indem es ihnen zeigt, was es braucht. Genau das aber wird ausgeschaltet, wenn das Kind einschaltet: Es wird vertan durch die oberflächliche Anmache, die zunehmend über fast alle Medien läuft. Die Sprache der Jugend? Daß ich nicht lache! Es ist nichts als das für die Jugend zurechtgeschneiderte Amerikanisch der Freizeitindustrie.

Die - oftmals hilflosen und verzweifelten - Signale, welche die Kinder ja trotzdem noch geben, können nur von einem lebenden Partner aufgenommen und beantwortet werden. Nur er (sie) ist imstande, das zu leisten, was ich oben Anleitung genannt habe. Weil der Mensch eine soziale Frühgeburt ist, muß den Heranwachsenden auf lange Zeit immer wieder geholfen werden, das, was sie brauchen, auch anzustreben und zu erreichen. Dabei bildet sich sehr allmählich ihr eigener Wille so weit aus, daß er diese Aufgabe übernehmen kann.

Das gleiche muß für die Anleitung auf musikalischem Gebiet gelten (ich vermeide auch hier den Ausdruck "Musikerziehung"). Sie setzt Menschen voraus, die selbst musizieren und das über viele Jahre mit dem Kind gemeinsam tun. Ich gebe zu, daß es für eine(n) Lernende(n) nicht leicht ist, sich auf einen solch langen Zeitraum einzurichten, dessen Inhalt erst nach und nach überschaubar wird. Es bedarf der Kraft der gesamten Gesellschaft, um ein Klima zu schaffen, in dem Lernen als Selbstfindung immer von neuem unterstützt wird. Was wir erleben, ist das genaue Gegenteil. Ehe die Kinder überhaupt suchen können, was sie brauchen, ist es ihnen längst von außen aufgedrängt worden. Die Eltern, selbst dann, wenn sie es wollen, können das gar nicht verhindern. (Das Erziehungssystem in der DDR hatte die Kinder und Jugendlichen nicht annähernd so im Griff, wie sie nun von der "Jugendkultur" beherrscht werden.) Warum noch selbst Musik machen, wenn per Knopfdruck gehört werden kann, was gerade "in" ist? Auch das ältere Kind hört nicht, was es will, sondern nunmehr, was es wollen soll). Und wenn doch eigene Musik, warum dann so viel üben, da ja Musikrichtungen entstanden sind, in denen es leichter geht? Die ursprünglich vorhandene annähernde Gleichheit zwischen Musikern und Zuhörern ist nämlich inzwischen wieder erreicht, allerdings auf wesentlich niedrigerem Niveau. Man kann den Jüngeren gar keinen Vorwurf machen, wenn sie nun glauben, die Erfahrungen der Älteren nicht mehr nötig zu haben; denn sie können sie für angepaßtes Musikmachen (und Leben) tatsächlich nicht mehr gebrauchen. So entsteht eine weitere Spielart der Umverteilung von unten nach oben: das einfache Aussterben grundlegender Fähigkeiten, auf denen die musikalischen Fortschritte wenigstens noch aufgebaut waren. Was übrigbleibt, ist eine scheinbare Vielfalt musikalischer Richtungen, die aber nur dazu dient, daß sich eine Generation von der anderen abgrenzen kann (und die Intervalle verkürzen sich auf halbe, viertel usw. Generationen). Musik, die einmal Sprache der Welt genannt wurde, bildet fast so etwas wie die Uniform, die eine Gruppe von der anderen unterscheidet - und Uniformen sind sich, wenn man von speziellen Unterscheidungsmerkmalen absieht, alle sehr ähnlich. Es kommt dahin, daß selbst die einfacheren Fähigkeiten nicht mehr in Übung sind, daß im Gegenteil nun die Jüngeren glauben, den Älteren etwas vormachen zu können, und hochqualifizierte Musiker sich in der Kunst des Knopfdrückens unterrichten lassen, um nicht zum alten Eisen geworfen zu werden. So bringt die neue Technik nicht etwa revolutionäre Inhalte hervor, sondern nimmt Anleihen beim Primitivstem auf, das die Vergangenheit zu bieten hat. Auch hier dominiert also die Strömung, die ich reaktionär genannt habe: Das Morgige verbindet sich mit dem Teil des Vorgestrigen, der leicht konsumierbar ist.

Damit zum letzten Umverteilungsvorgang, den ich im Bereich der Musik betrachten will, zur Plünderung der außereuropäischen Musikkulturen bei gleichzeitigem Export der europäischen Musik in diese Regionen. Diesen Prozeß gibt es, seitdem Europäer ihren Fuß auf andere Kontinente setzten, und auch er beschleunigt sich. Schwer zu sagen, ob die Techno-"Szene" noch "in" ist, wenn diese Zeilen gelesen werden. Ich nehme sie als Beispiel dafür, wie man sich auf afrikanische Rhythmen beruft, diese aber (in der Regel) in ihrer primitivsten Form und ohne ihr wichtigstes Merkmal, die Ausführung durch Menschen, verwendet. Nicht der kleinste Schnipsel Pop-Musik könnte existieren ohne die Gospel- und Jazz-Musik, welche die Afroamerikaner entwickeln mußten, weil man ihre Folklore und ihre Instrumente verbot. Nicht ein einziger Pop-Star könnte sein Geld verdienen, hätten ihm nicht Millionen schwarzer Sklaven den Weg bereitet. Die Jugendlichen können den erstbesten "Ethno-Pop" für die Botschaft des schwarzen Kontinents halten und die Quellen, so sie diese jemals zu hören bekommen, für fürchterliche Katzenmusik, weil ihnen das Lebensgefühl nicht mehr zugänglich ist, mit dem die afrikanische Musik einmal verbunden war. Wäre dieser Zugang noch vorhanden, dann müßten ja beim Hören früher Jazzmusik die Leiden der nach Amerika verschleppten Afrikaner wieder aufleben, und beim Hören der ursprünglichen afrikanischen Rhythmen müßte das Leben im afrikanischen Dorf in seiner ganzen Vielfalt gegenwärtig sein. Man wird diese Vorstellung absurd finden, aber das zeigt mir, wie weit sich in unserem Bewußtsein die Musik von den Menschen abgelöst hat. Musikalische Versatzstücke aus der gelebten Zeit herauszutrennen, heißt zugleich, die damit verbundenen Gefühle abzuspalten. Dies ist die schlimmste Art der Umverteilung von unten nach oben und geht in seiner Bedeutung weit über die Musik hinaus; denn das Gefühlsleben ist das Urgestein noch unter den Fundamenten, auf denen unser Zivilisations-Turm steht. Ein weiterer Abbau muß alles ins Rutschen bringen. Welch ein Wahnsinn also, noch zusätzlich überall dort zu sparen, wo menschliches Gefühl sich ausleben, entwickeln und verstärken kann.



Sparen und Fortschritt (2)

Mein Vater warnte davor, die Musik zum Beruf zu machen, so wie er selbst es getan hatte. "In Notzeiten wird zuerst beim Künstler gespart", pflegte er zu sagen. Die Problematik dieses Satzes besteht darin, daß er zunächst falsch, dann richtig, dann wieder falsch und dann wieder richtig ist. Er ist falsch für die ferne Vergangenheit, weil das Musizieren am Anfang so billig war, daß es gar nichts zu sparen gab. Das Singen kostete nichts, das Herstellen von Instrumenten aus Naturmaterial lediglich Arbeitszeit, die aber nicht aus der Lebenszeit herausfiel oder gar "abgerechnet" wurde. Beim Künstler zu sparen, wurde überhaupt erst möglich, nachdem Kunst zur Tätigkeit von Spezialisten geworden war, für deren Lebensunterhalt und Arbeitsmaterial die Gesellschaft aufzukommen hatte und aufzukommen bereit war. Diese Bereischaft ließ natürlich nach, wenn es an Essen, Kleidung usw., also an lebensnotwendigen Dingen fehlte, auf die man weniger lange verzichten kann als beispielsweise auf Musik. Insofern ist der Satz richtig, wenngleich auch hier nicht ohne Einschränkung, wie die eindrucksvollen Berichte über "Hunger" auf Theater und Musik unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg zeigen, als wirklicher Hunger und allgemeine Not keineswegs einen Vorwand lieferten, auf Kunst zu verzichten. Der Satz wird gänzlich falsch für eine lange, bis heute andauernde Entwicklung, bei der genau das Gegenteil von Sparen stattfand, weil immer mehr Hilfsmittel auch für die Künste entwickelt wurden und selbst in Notzeiten der materielle Aufwand von vornherein höher angesetzt blieb als in vorangegangenen "guten Tagen". Es ist nicht zu bestreiten, daß es eine etablierte Kunst gibt, die den gemäßigten Fortschritt, will sagen den bis gestern allgemein akzeptierten bereits in sich aufgenommen hat und damit an der allgemeinen Verteuerung des Lebens durch die Technik beteiligt ist. Wenn man aber etwa das teure Bühnenbild einer Theaterinszenierung kritisiert, muß man sich klarmachen, von welcher Seite aus man diese Kritik heranträgt: Kritisiert man den Aufwand vom Standpunkt des "armen Theaters", dem die handelnden Personen wichtiger waren als die Kulissen, kritisiert man ihn also vom konservativen Standpunkt, so wie ich es tue, - oder kritisiert man ihn paradoxerweise im Namen der noch viel teureren Film- und Fernsehproduktionen? Es gibt nämlich so etwas wie eine Hierarchie des Teuerseins der Künste, die der allgemeinen Ansicht folgt: Alles, was teuer ist, ist wertvoll und gut. So steigen etwa die Kosten für Theaterproduktionen, weil versucht wird, mit dem Film zu konkurrieren; oder es steigen die Kosten für Rock-Konzerte ganz unverhältnismäßig, weil es längst nicht mehr genügt, gute Musik zu machen, weil die Qualität der Musik sogar unwichtiger wird als die Show, und wiederum die Personal-Show unwichtiger wird als die Technik-Show. Dies alles wagt man natürlich nicht in Frage zu stellen, da es gewissermaßen das Hohelied des Fortschritts, den Tanz nicht mehr um das goldene Kalb, sondern um den goldenen Computer beinhaltet. Und so wird denn am meisten gespart bei den Kunstformen, die ohnehin am wenigsten kosten: lieber beim einfachen Musikunterricht und der Kammermusik als bei den großen Orchestern, aber lieber bei den großen Orchestern als bei jeder Art elektrifizierter Musik; lieber bei den kleinen Theatern und Freien Gruppen als bei den großen Theatern, aber lieber bei den großen Theatern als bei den Film- und Fernsehproduktionen (und wenn bei letzteren, dann bei den öffentlich-rechtlichen Sendern und nicht etwa bei den privaten, die allein durch ihre Zahl die Gesamtkosten in die Höhe getrieben haben). So drängt der Fortschritt alle beiseite, die mit konservativer Tätigkeit genau die Lebenskräfte zu stärken versuchen, die er auf dem Gewissen hat. Er drängt sie selbst dann beiseite, wenn sie ihn zwar korrigieren, dennoch aber grundsätzlich unterstützen wollen. Er drängt sie erst recht beiseite, wenn sie es wagen, gegen ihn aufzutreten. Für solche bewahrenden Künstler oder auch Wissenschaftler ist der Satz meines Vaters schließlich wieder richtig, ja man könnte sogar sagen, daß er erst jetzt seine volle Wahrheit entfaltet. In einer Art Umkehrung der Beweislast verlangt man den Nachweis der Existenzberechtigung gerade von denen, die unten bei den Fundamenten sitzen, alle notwendigen Reparaturen durchführen wollen und Wachen aufstellen, damit nicht das letzte Baumaterial weggeschleppt wird. Schon melden sich Stimmen, die ausgerechnet sie zu Parasiten erklären, ausgehend natürlich von den Leuten, die man mit viel größerer Berechtigung als Parasiten bezeichnen kann (von solchen nämlich, die davon leben, daß andere Kunst machen). Fordert etwa ein Musik(schul)lehrer im öffentlichen Dienst, daß die Zahl der Unterrichtsstunden nicht weiter angehoben wird, dann unterstellt man ihm, er wolle nur auf Kosten der Allgemeinheit seinen "Besitzstand" wahren. Nun mag es diesen oder jenen geben, auf den das zutrifft. Die Sache, um die es geht, ist aber eine ganz andere. Ein Lehrer muß etwas zu vermitteln haben. Ein Musiklehrer muß
- wie wir gesehen haben - etwas zu vermitteln haben, was mit Zeit und mit Gefühlen zu tun hat. Er kann also nur das weitergeben, was er selbst lebt (und das, was er gelebt hat, nur insofern, als es beim Unterrichten wieder lebendig wird). Bereits wenn er für sich das Gefühl hat, seine Lebenszeit werde durch die Arbeits- (hier Unterrichts-)Zeit aufgefressen, genügt dies, um das ganze Stunden-Soll fragwürdig zu machen. Die Unzufriedenheit wird sich auf die Schüler übertragen trotz allen guten Willens, trotz aller Versuche zur Selbstüberwindung. Völlig sinnlos, hier Vorwürfe zu machen und Sachzwänge ins Feld zu führen - man kann mehr Anstrengung erzwingen, aber nicht mehr Gefühl. Völlig absurd, den Fachleuten für Zeit vorschreiben zu wollen, wie sie mit ihrer Zeit umzugehen haben.

Wieviel Zeit nötig ist, um die Einflüsse der amusischen Umgebung immer wieder abzuschütteln, die eigene künstlerische Arbeit stetig neu zu beginnen (einem Musikschullehrer, der darauf verwies, daß nicht nur seine Unterrichtsstunden, sondern auch seine eigenen Übungszeiten Arbeitszeit sind, wurde allen Ernstes entgegnet: Wieso, geübt haben Sie doch im Studium!) und erst dann diese fühlende Tätigkeit (und nicht das bloße Können und Wissen) anderen zu vermitteln, das weiß niemand so gut wie der Musiker. Er ist der Sachverständige, aber er soll nicht entscheiden. Wo bleibt denn hier auf einmal die "Freiheit"? Offenbar gilt sie gar nicht für die wirklich Konservativen? Mit Sicherheit gilt sie aber für Leute "ohne Emotionen", die nicht einmal die gegenwärtige, geschweige denn die ursprüngliche Tiefe der Musik nachfühlen können. Darum ist es auch naiv (oder zynisch), die Musiker angesichts der knappen öffentlichen Kassen auf Sponsoren zu verweisen. Ich kann nicht mit der Unterstützung eines Autoherstellers rechnen, wenn ich ein Projekt vorhabe, das die Gefährlichkeit des Autofahrens zeigt und Alternativen anbietet. Ich kann nicht mit der Unterstützung einer Elektronikfirma rechnen, wenn ich Möglichkeiten schaffen will, zum Ursprung des Musizierens zurückzufinden und Verstärker, Aufnahmegeräte und elektronische Instrumente überflüssig zu machen. (Ausgerechnet in einer Zeit ständiger Spar-Appelle wird die Musik, die nichts weiter kostet als den einmaligen Anschaffungspreis, völlig ignoriert: die traditionelle Hausmusik auf "akustischen", soll heißen: nicht stromverbrauchenden Instrumenten. So werde ich auf die nichtöffentliche Musikpflege verwiesen. Damit (oder doch wenigstens mit der Beschränkung auf eine sehr, sehr kleine Öffentlichkeit) kann ich leben, nur: Das konnte ich in der DDR auch haben. Im kleinen Kreise Gleichgesinnter konnte ich jede Art von Musik, sogar jeden beliebigen Text vorführen. Die Probleme begannen auch in der DDR erst dann, wenn ich aus dem kleinen Kreis heraustreten und mich an die Öffentlichkeit wenden wollte. Die Hürden waren anderer Art, aber es gab Funktionäre, die zur Unterstützung bereit waren, so weit ihr Verständnis und ihre Macht reichte. Auch jetzt gibt es Vertreter unterschiedlicher Institutionen, die zur Unterstützung bereit sind, so weit ihr Verständnis und ihr Geld reicht. Aber beides - Macht und Geld - war bzw. ist Bestandteil des jeweiligen Systems und konzentriert sich nicht bei den Gutwilligen, sondern bei den Herrschenden. Sponsoring ist alles andere als großzügige Kunstförderung; es ist ein bestens funktionierendes Ausleseprinzip. Schöpferische Menschen werden materiell am Fortschritt interessiert, die Fortschrittskritiker unter ihnen werden ausgeschaltet oder im Meer der geförderten Wohlstandskultur ertränkt. Eine Diskussion der Auswahlkriterien findet, wo überhaupt, hinter verschlossenen Türen statt. Wenn aber Fragen von größter öffentlicher Bedeutung privat entschieden werden, dann ist der letzte Anschein von Demokratie verschwunden. Übrig bleiben kann nur eine Anarchie der Restbestände, wie sie die Berliner Halbmonatszeitung "scheinschlag" vorführt:








Das antiökonomische Manifest

In Prokofjews "Peter und der Wolf" sagt der kleine Vogel zur Ente: "Was bist du für ein Vogel, wenn du nicht fliegen kannst?!" Die Ente antwortet: "Was bist du für ein Vogel, wenn du nicht schwimmen kannst?!" An diesen kleinen Disput mußte ich in den letzten Jahren oft denken. Wer entscheidet, wodurch sich der Begriff "Vogel" definiert? Auf unsere Stiuation übertragen: Wer entscheidet, wodurch sich "Freiheit", "Demokratie", "Zwang", "Diktatur" definieren? Für den Alt-Bundesbürger war es so klar wie für den kleinen Vogel: "Selbstverständlich gilt das, was meinem Wertesystem entspricht!" Die Entgegnung der Ente hörte man, wenn überhaupt, nur sehr kleinlaut. Der Teich, um bei diesem Bild zu bleiben, war längst trockengelegt, so daß von den Vorteilen des Schwimmens nicht mehr die Rede sein konnte. Das Ausmaß, in dem auch die Luft verpestet ist, ließ sich gerade dadurch noch eine Weile verbergen. Inzwischen wird aus dem Fliegen in luftigen Höhen immer mehr ein hilfloses Hin- und Herflattern.

Ich ergreife nicht für die Ente Partei, wenn ich versuche, die zu ihren Ungunsten völlig verschobene Perspektive ein wenig zurecht-zurücken. Ich behaupte nicht, daß es im "sozialistischen Lager" Demokratie gegeben hat, wenn ich der kapitalistischen Wirklichkeit die Demokratie bestreite. Ich habe deutlich gemacht, daß es mir nicht um ein Entweder-Oder geht sondern um ein Weder-Noch. Aber auseinandersetzen muß ich mich in erster Linie mit dem, was jetzt existiert und unser aller Leben bestimmt. Nur so kann ich dem Meinungsdruck widerstehen, der mit den Maßstäben der völlig desolaten Gegenwart die Vergangenheit verurteilt, nicht um mit dieser fertigzuwerden, sondern um das gerade Bestehende zu rechtfertigen.

Ich betrachte es als meinen Vorteil, daß ich mit dem gegenwärtigen System wenig genug verflochten bin, um mir einen unabhängigen Blick zu bewahren. Freilich geht diese Unabhängigkeit - bis in Einzelheiten des Lebens hinein - so weit, daß ich mit dem Einwand rechnen muß, ich könne ja gar nicht mitreden. Es ist der Trumpf jedes Spezialisten, unbequeme Argumente dadurch abzutun, daß er dem Opponenten die Kompetenz bestreitet. Der Trumpf sticht unfehlbar, wenn der Spezialist in der Hierarchie des Fortschritts weit oben steht und der Einspruch von einer ganz anderen, tiefer stehenden Position kommt. Es ist die Schwierigkeit meiner Argumentation, daß ich mich eben auf einer solchen tiefer-, damit aber den Fundamenten näherstehenden Position befinde und ein ganz anderes Spiel mit ganz anderen Trümpfen spielen will. "Dann zeigen Sie mal Ihre Alternative auf, wie aus der Finanzkrise herauszukommen ist!" wird gesagt. Ein tief eingefressenes Vorurteil, daß ich selbst dann noch ökonomisch argumentieren soll, wenn ich die Bedeutung der Ökonomie gerade relativieren will! (So wie ich in der DDR politisch argumentieren sollte, wenn ich zeigen wollte, daß nicht die Politik der Maßstab aller Dinge sein kann! Wenn ich einen Autofahrer warnen will, daß der Weg in den Sumpf führt - ich habe mich gerade davon überzeugt - , dann muß ich nicht wissen, wie sein Auto funktioniert.) Ich gestehe offen, daß ich in dem einzelnen Streit um Finanzierung und Gegenfinanzierung weder mitreden kann noch will. Wohl aber habe ich das Recht, mich gegen Übergriffe der Ökonomen in mein eigenes Arbeitsgebiet zu verwahren. Und ich habe, da diese Übergriffe zur Normalität geworden sind, das Recht, mich gegen das ganze System zu verwahren und es als das zu bezeichnen, was es ist: nicht eine Demokratie sondern eine Wirtschafts-Diktatur.

Das wird, polemisch dahingesagt, sicher manchem gefallen. Ich meine es aber ganz ernst und wörtlich. Jede Art von Diktatur stützt sich auf die Machtmittel, durch die sie sich bestimmt: eine Militärdiktatur auf die Macht der Waffen, eine politische Diktatur auf die Macht der überall hinreichenden politischen Organisationen, und eine Wirtschafts-Diktatur stützt sich eben auf die Macht der Waren und des Geldes. Allerdings kann die politische Diktatur immer noch auf die Waffen zurückgreifen, und die Wirtschafts-Diktatur kann auf politische Organisationen zurückgreifen, die auf Waffen zurückgreifen können (oder warum sonst wird die NATO nicht aufgelöst sondern erweitert?). Das allgemeine politische Klima war und ist deutlich bestimmt durch das jeweilige Machtmittel: entweder als Militarisierung oder als Politisierung oder als Ökonomisierung. Mit letzterer meine ich das zwanghafte Bestreben, daß alles "sich rechnen" muß, für den unabhängigen Blick um nichts weniger lächerlich als die der Militärdiktatur eigene Manie, alles exakt und soldatisch auszuführen, oder die in der politischen Diktatur verlangte Ausrichtung jeder elenden Kleinigkeit am Wohle des Staates. Dabei sind die vorherrschenden Verhaltensweisen so tief eingefressen, daß sie als besondere oder gar als lächerliche nicht mehr auffallen. Es muß scheinbar so sein, daß heute in jedem zweiten Satz von Geld die Rede ist, daß der Kultursenator nicht über die Kultur und der Schulsenator nicht über die Schüler spricht, sondern alle wie der Wirtschaft- und Finanzsenator nur noch Zahlen ausspucken, hinein in Millionen- und Milliardenlöcher. In ähnlicher Verblendung mußte einmal jede Schulklasse und jede Sportgruppe strammstehen, mußte jeder Vorgesetzte Kommandos brüllen. In ähnlicher Verblendung wurden Herrscher-Biographien auswendiggelernt, wurde das eigene Land zum größten, besten und wichtigsten erklärt. Diese früheren "Tugenden" sind aber nicht verschwunden, sondern können jederzeit aktiviert werden. Schon gilt die Ausrichtung am "Wirtschaftsstandort Deutschland" als absolutes Muß, und wenn auch gegenwärtig nicht soldatische Haltung verlangt wird, bleiben doch Disziplin, Sauberkeit und Ordnung hochgepriesene deutsche Eigenschaften.

Es drängt sich die Vermutung auf, daß die früheren Diktaturen gar nicht wirklich überwunden, sondern nur von anderen überlagert und schließlich abgelöst wurden. Die ständig wiederholte These aber, in der DDR habe es bloß einen Wechsel von der "braunen Diktatur" zur "roten Diktatur" gegeben, vernachlässigt eine sehr entscheidende Besonderheit: Letztere hatte aufschiebende Wirkung in bezug auf die Wirtschafts-Diktatur. Wenn man sich etwas von der DDR zurückwünschen kann, dann bestimmt nicht die politische Unterdrückung, sondern eben dieses Hinauszögern der totalen Ökonomisierung. Dem Ostler wird dennoch Nostalgie unterstellt, ohne daß unterschieden wird zwischen der Sehnsucht nach dem totalitären Staat und der Sehnsucht nach Verhältnissen, in denen nicht allein das Geld die Welt regiert. Schier unauflöslich wird der Knoten nun dadurch, daß diese beiden Beweggründe gegensätzlicher Art sind, letztlich aber doch zusammengehören:

Will man das Verhalten der einzelnen Menschen  verstehen, muß man streng unterscheiden zwischen dem ursprünglichen Ziel der sozialistischen Bewegung, die Macht der privaten Wirtschaft zu brechen, und der dafür in Kauf genommenen politischen Diktatur. Tut man das nicht, dann verfälscht man die Absichten vieler Menschen bis hin zur der Unterstellung, es wäre von vornherein nur um Unterdrückung und Machtausübung gegangen und der einzelne hätte mitgemacht entweder aus bösem Willen oder aus Feigheit, aus keinem anderen Grund. Dann negiert man die Selbstlosigkeit vieler kommunistischer Widerstandskämpfer, die gar nicht mehr die "Chance" bekamen, an der Unterdrückung teilzunehmen, weil sie längst Opfer des Nazi-Terrors geworden waren. Man verkennt den guten Willen vieler Leute im Osten, die glaubten, man könne schließlich ohne das, was ich Wirtschafts-Diktatur nenne, und ohne politische Diktatur auskommen. Dennoch - es ist nicht ein bloßer Unglücksfall, daß sie unrecht behielten, daß sich Terror und millionenfache Morde auch mit der sozialistischen Bewegung unauflöslich verbanden. Man konnte nicht gegen die Herrschaft der Wirtschaftsbosse antreten, ohne sich dem allgegenwärtigen Trend des Fortschritts in den Weg zu stellen. Wer sich dies klarmacht, versteht, daß hier von Anfang an ein völlig ungleicher Kampf stattfand. Die westliche Seite mußte im Grunde nur den Dingen ihren Lauf lassen und hier und da ein wenig nachhelfen. Die Revolutionäre in allen Ländern waren dagegen von Anfang an in zermürbende Kämpfe verwickelt, welche natürlich auch die Mentalität der Kämpfer prägten. Zur Macht gelangt, fehlten ihnen jegliche Mittel, die Menschen mit Wirtschaftswundern zu ködern. sie konnten also auf Dauer nichts anderes tun, als "ihr" Volk mit Gewalt zu beherrschen und sogar im Lande festzuhalten.Damit nicht genug, erwuchs aus der antikapitalistischen Stoßrichtung ein Umstand, der sehr bald auch den inneren Zusammenhalt untergrub. Da die sozialistische Bewegung nicht mit den Mächten des Fortschritts im Bunde stand, fehlte ihr der quasi-natürliche Drang zur Expansion. Mit Kriegen oder mit Wirtschafts-Kriegen andere Länder und Kontinente zu erobern, war westeuropäische Praxis seit dem Zeitalter der Entdeckungen. Auf diese Weise konnten auch die inneren Konflikte nach außen gelenkt werden, konnten die Abenteurer und Unzufriedenen in Amerika, Afrika, Australien siedeln und dort den Weltkapitalismus weiter stabilisieren, konnte schließlich der Mord an "den anderen", der Krieg zur selbstverständlichen und fast allgemein akzeptierten Notwendigkeit erklärt werden. Nichts davon im Osten. Es gehörte ja gerade zum System, die Verantwortlichen für Kriege und Wirtschaftskriege zu entmachten. Damit mußte man sie zu Gegnern (entweder im Lande oder draußen) machen; damit mußte man vor allem die seit Jahrhunderten bewährte Expansions-Maschinerie anhalten. Sofern die Sozialisten überhaupt versuchten, ihr Gesellschaftsmodell zu exportieren, konnten sie auf keinerlei ökonomische Mechanismen zurückgreifen. Angestaut durch die Unmöglichkeit praktischen Handelns nach außen, verblieb das Konflikt- und Aggressionspotential im Inneren des Systems und richtete seine zerstörerischen Kräfte gegen die eigenen Leute. Die schrecklichen Ergebnisse sind bekannt - vom Archipel Gulag und der Chinesischen Kulturrevolution bis zur Stasi. Den folgenschweren Übeln einer weltweiten Wirtschafts-Diktatur konnt also nur begegnet werden, indem andere große Übel hervorgebracht wurden. Das ist nicht erst die Logik der Revolution; es ist bereits die Logik des Fortschritts.

Angesichts einer solchen weltgeschichtlichen Dimension, die das Fassungsvermögen nicht nur des einzelnen Menschen, sondern auch der einzelnen Generation übersteigt, kann es nicht um Gegeneinander-Aufrechnen, um Verurteilen oder Entschuldigen gehen, sondern nur um den Versuch zu verstehen. Dann wird auch klar, daß es zwar stets die Chance gab sich zu verweigern, kaum jemals aber die, wirksam anzukämpfen gegen Entwicklungen, die dem allgemeinen Trend der Geschichte folgten. Gegen eine Militärdiktatur kämpfen konnte man nur mit militärischen, gegen eine politische Diktatur mit politischen Mitteln, und dann mußte man zu viele der Eigenschaften selbst annehmen, zu deren Verschwinden man eigentlich beitragen wollte. Für eine Wirtschafts-Diktatur gilt das noch umfassender und unausweichlicher. Ohne Geld kann man heute weniger als jemals irgend ein Projekt durchsetzen, mit dem man viele Menschen erreicht. Man muß also, bevor man das System bekämpfen kann, erst einmal in ihm mitspielen. Die Spielregeln lernt man nicht ohne die entsprechenden Verhaltensweisen, und hat man nach dem mühevoll-schizophrenen Prozeß der Anpassung zum Zwecke des Widerstands für letzteren noch den Willen bewahrt, so hat die Kraft dazu mit Sicherheit abgenommen. Aber selbst dann, wenn ich das Vorhaben zu kämpfen aufgegeben habe, unterliege ich den wirtschaftlichen Zwängen. Konnte der Mensch sich dem militärischen Gehabe unter Umständen noch entziehen, konnte er - wenn auch um den Preis des Isoliertseins - allen politischen Organisationen fernbleiben, vom Gelde (Das Beste, was ich zum Thema Geld gelesen habe, steht in Rudolf Bahros "Logik der Rettung", Stuttgart und Wien 1989 S. 136-148.) freihalten kann er sich nur, indem er seine Existenz aufs Spiel setzt. Jeder, der nicht völlig außerhalb der Gesellschaft stehen will, ist somit in der "Freien Deutschen Wirtschaft" Zwangsmitglied. Von einer solchen Organisation konnten die Herrschenden aller früheren Zeiten nur träumen.

Es ist schon kurios: Da haben wir Angst vor einer Öko-Diktatur - und leben schon mitten in einer anderen.

Aber es ist bestens dafür gesorgt, daß jedes Mitglied den Eindruck gewinnt, es habe alle Möglichkeiten zur Mitwirkung im System, sei demzufolge aber auch am Mißlingen seiner Unternehmungen selbst schuld. Wenn jemand die Geschichte vom Tellerwäscher, der es bis zum Millionär gebracht hat, nicht mehr ernstnehmen mag, wird er dennoch daran glauben, daß "jeder seines Glückes Schmied" ist. Aber dieses Wort, für frühe Gesellschaften und einfache Bedürfnisse durchaus richtig, erweist sich für unsere komplizierten Verhältnisse als ähnlich doppeldeutig wie die Behauptung: Jeder kann im Lotto gewinnen. Dies kann ja auch nicht bedeuten, daß alle zugleich gewinnen können, sondern beinahe das Gegenteil: Einer zieht nur deshalb das große Los, weil fast alle anderen verlieren! Das Kapital "existiert gerade dadurch, daß es für neun Zehntel nicht existiert", heißt es im Kommunistischen Manifest. Daß diese These richtig ist nicht nur für das Eigentum, sondern bereits für die Anstrengungen, die zu ihm verhelfen können, das heißt für den "Besitz" eines Arbeitsplatzes, sehen wir immer deutlicher. Wer seine Kräfte für die Wirtschaft hergeben "darf", genießt dieses zweifelhafte Privileg nur deshalb, weil andere das nicht "dürfen". Wenn DDR-Funktionäre darauf beharrten, die Begriffe Arbeitgeber und Arbeitnehmer wären irreführend, müßten sogar ausgetauscht werden (der Arbeiter gibt, der Unternehmer nimmt Arbeitskraft!), so war das keineswegs ideologische Starrköpfigkeit. Die allgemeine Durchsetzung der unternehmerfreundlichen Sprachregelung hat nämlich mit beigetragen zu dem heute herrschenden Klima, in dem nach Selbstverwirklichung bei der Arbeit überhaupt nicht mehr gefragt werden kann, weil die Arbeit die Inhalte, die Verhaltensweisen, den Zeitfonds und selbst die Wohnorte für die Arbeitenden vorgibt. In diesem Klima ist nun gelungen, was in der DDR schon deshalb nicht möglich war, weil die Regierenden bis zum Schluß davor zurückschreckten: die Privatisierung des Schuldvorwurfs auch in dieser Hinsicht. Wie, du hast keine Arbeit? Da hast du dich nicht richtig beworben, oder du hast nicht die richtige Qualifikation, du hast in der Schule nicht zielstrebig gearbeitet.... Nun aber ran, Fortbildung, Umschulung, Bewerbungstraining! Dann kannst du es schaffen (jeder kann es schaffen, jeder ist seines Glückes usw.)... Unterschlagen wird der Zusatz: Aber nur dann, wenn ein anderer es nicht schafft. Ein anderer, den du nie kennenlernen und darum auch nicht feststellen wirst, ob du wirklich der Bessere oder ob du einfach der Glücklichere warst. Wieder ist es die Unübersichtlichkeit der (nun auch noch globalisierten!) Verhältnisse, welche verhindert, was normal wäre: Wer viel Arbeit hat, der gebe dem welche ab, der keine hat.

Zusammenfassend will ich noch einmal die 3 Vorurteile nennen, die so tief verwurzelt sind, daß sie das System stabil halten: das Vorurteil des (lebensverbessernden) Fortschritts, das Vorurteil des (privaten, aber zu schützenden) Eigentums und das Vorurteil der (gegenwärtig vorhandenen) Demokratie. Eine zusätzliche, sozusagen automatische Sicherung besteht darin, daß die einfache Negation dieser Vorurteile - selbst im Falle massenhaften Auftretens - keine Zukunftsperspektive, ja, zumeist nicht einmal wirksamen Widerstand schafft. Wenn jemand erkennt, daß er an seiner Armut nicht schuld ist, das Vorurteil des Eigentums ablegt und sich das Lebensnotwendige nunmehr "privat" durch Mundraub und (mehr oder weniger aggressives) Betteln beschafft, wird er zwar zum Problem für die Ordnungskräfte (und zur Zielscheibe der Empörung des braven Bürgers und seines Volksvertreters), nicht aber für die Sozialkassen. Er entlastet also letztlich das System, welches ihn als Arbeitskraft sowieso nicht mehr braucht, von seinen Ansprüchen. Und er schafft sich mit großer Wahrscheinlichkeit ein Leben, das seine Kräfte aufzehrt, statt sie herauszufordern. Insgesamt wird mangels Lösungsmöglichkeit das Vorurteil bestätigt: Aussteigen lohnt sich eben doch nicht.

    "Man muß sich stellen mit den Leuten, eine Hand wäscht die andere, mit dem Kopf kann man nicht durch die Wand.
      
        Und vom Dach der Star
        Pfiff: noch kein Jahr!
        Und sie marschiert in der Kapell
        Im Gleichschritt langsam oder schnell
        Und bläset ihren kleinen Ton:
        Jetzt kommt er schon.
        Und jetzt das Ganze schwenkt!
        Der Mensch denkt: Gott lenkt."
      
            (Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder)

Selbst die Mitglieder der RAF, die solch opportunistische Haltung wie die Pest gehaßt haben müssen, erreichten letztlich nichts anderes, als dieser noch weitere Rechtfertigungen zu liefern. Sie hatten nach desillusionierenden Erfahrungen mit der "Demokratie" das diesbezügliche Vorurteil für sich abgelegt. Sie waren getrieben von einer Verzweiflung, die ich gut nachfühlen kann, weil sie der Einsicht entsprang, daß auf legalem Wege nichts Entscheidendes zu verändern ist. Aber auch sie übernahmen viel zu viel von der Brutalität, die einmal ihre Gegner zur Macht gebracht hatte. Sie führten damit nur jedem deutlich vor Augen: So kann es auch nicht gehen. Noch schlimmer: Sie boten sich selbst als Feindbild für die Reaktionäre an. Nein, die einfache Negation führt bloß immer tiefer in den Strudel der Vorurteile hinein.

Ich unterliege nicht der Versuchung, zum Schluß doch wieder ein Wunschbild einzuschieben oder es gar als realistisch auszugeben. Kräfte, die eine "Negation der Negation" (doppelte Verneinung, die Bejahung wäre), tragen können, sehe ich nicht, und ich bin mir bewußt, daß ein einzelner sie nicht herbeireden kann. Da jeder Fanatismus ins Abseits führt, bleibt ein gewisses Lavieren im persönlichen Leben auch für mich unumgänglich. Es soll ja gerade nicht darum gehen, für eine Idee zu leben, sondern für möglichst viel Freude und Lust. Auch mache ich mir keine Illusionen, was eine mögliche Resonanz auf meinen Text betrifft. Ich gehöre zur Minderheit in der Minderheit und muß damit rechnen, selbst in dieser noch für einen Phantasten gehalten zu werden.

Allerdings gibt es einen Umstand, der mich meiner selbst einigermaßen sicher macht. Ich stelle fest, daß sich meine Leistungsfähigkeit in den letzten Jahren steigert und mein Lebensgefühl intensiver wird. Der Weg, den ich insgesamt eingeschlagen habe, kann demnach nicht so falsch, und die Gedanken, die ihn begleiten und aufs engste mit ihm verbunden sind, können zumindest der Beachtung wert sein.

Darum übergebe ich diese Seiten, die ich schreiben mußte, um für mich Klarheit zu schaffen, auch dem interessierten Leser.

Keine Kommentare: